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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Als sie ihre Großmutter auf der Straße liegen sah, begann sie mit einem seltsamen kleinen kreiselnden Schmerzenstanz. Lev ging zu ihr, umarmte sie und sagte: »Es ist gut. Alles wird gut werden.«
    Aber Maya war aschfahl, starr. Wie konnte alles »gut werden«, wenn Ina im Staub lag?
    »He«, sagte Lev zu seiner Tochter, »wollen wir Lili zum Laster bringen? Einen hübschen, gemütlichen Platz für sie finden?«
    Aber Maya verbarg nur ihr Gesicht an seiner Hüfte, konnte nirgendwo hinschauen, konnte nicht sprechen. Er streichelte ihr Haar, das sie in letzter Zeit in einem lustigen kleinen Knoten trug, der von einem quietschgrünen Gummiding zusammengehalten wurde. Dieser Knoten beunruhigte Lev. Er fand, dass Mayas Gesicht dadurch zu offen, zu verletzlich und ungeschützt wirkte. Und jetzt löste Lev das grüne Gummi, und Mayas dunkles Haar fiel nach vorne und bedeckte ihre Ohren. Bald schon war es feucht und verklebt von ihren Tränen.
    Erschöpfung übermannte ihn. Er hatte jeden Tag 15, 16 Stunden gearbeitet, um das Restaurant auf Vordermann zu bringen, hatte entweder dort in der Podrorskystraße 43 auf einer Matratze zwischen Bauschutt geschlafen oder war weit nach Mitternacht nach Auror zurückgefahren und hatte Listen gemacht, Listen und noch mehr Listen, mit allem, was noch zu tun war, mit allem, was noch nicht geregelt oder angeschafft worden war. Besonders unglücklich war er darüber, dass er dabei das Vordringlichste vernachlässigte: das Kochen. Wenn das Restaurant demnächst tatsächlich eröffnete − falls ihm nicht das Geld ausging, falls es nicht von all den Schmiergeldern, die er notgedrungen zahlen musste, aufgezehrt war −, würde sein Kopf vielleicht vollkommen leer sein. Er würde sich vielleicht an kein einziges Rezept mehr erinnern. Jener Teil in ihm, der so unbedingt Koch hatte werden wollen, war dann vielleicht schon gestorben.
    Es gelang ihm, weiter sanft auf Maya einzureden, sie daran zu erinnern, dass er am nächsten Tag mit ihr Schlittschuh fahren und Ina vom Rand der Eisbahn aus zusehen würde, wie sie ihre Kreise und Sprünge vollführte. »Bis dahin wird sie wieder fröhlich sein«, sagte er ohne Überzeugung. »Sie wird wieder übers ganze Gesicht strahlen.«
    Als er erneut zu Ina hinübersah, lag sie immer noch auf der Straße, und Rudi kniete neben ihr. Er hörte sich selbst seufzen. »Ja«, flüsterte er in den langen, gequälten Seufzer hinein: »Hilf mir jetzt, Kamerad. Rette die Situation für mich.«
    Rudi brachte Ina schließlich in den Wagen, und Maya saß auf ihrem Schoß und klammerte sich an sie, und sie fuhren los. Hinten im Wagen rutschten und polterten ihre Möbel unter einer verblichenen Plane.
    Niemand drehte sich nach Auror um. Lev blickte starr auf die steile Straße. Maya steckte den Daumen in den Mund und schlief an Inas Brust ein. Inas Haar war noch staubig von der schmutzigen Straße, aber das schien sie gar nicht wahrzunehmen, sie schien überhaupt nichts wahrnehmen zu wollen, saß nur versteinert in dem ausgeleierten alten Sitz, rührte und regte sich nicht.
    »Hör mir jetzt zu, Mama«, sagte Lev, als sie aus dem Dorf heraus waren und mit hoher Geschwindigkeit die Baryner Straße entlangfuhren. »Ich sage es dieses eine Mal, und ich werde es nicht ständig wiederholen. All das, was geschehen ist, tut mir leid. Ich weiß, dass es dir das Herz gebrochen hat. Aber es ist nicht meine Schuld. Die Welt hat sich verändert. Und ich habe einfach nur versucht, mich anzupassen. Irgendjemand musste das nämlich. Verstehst du?«
    Er warf ihr einen kurzen Blick zu. Es war, als hätte sie ihn nicht gehört. Ihr Mund war ein scharf gezogener schmaler Strich.
    Ihr Schweigen hielt an. Sie reagierte auf keinerlei Ansprache, außer wenn Maya mit ihr redete. Sie äußerte sich zu nichts in der neuen Wohnung − nicht einmal zur verlässlich funktionierenden Stromversorgung. Als Lev ihr Schmuckwerkzeug auspackte und es auf einem Bord in dem weißen Zimmer ausbreitete, das sie sich mit Maya teilen würde, sammelte sieschweigend alles wieder ein und ließ es in dem alten Schrank verschwinden, den sie unbedingt aus Auror hatte mitnehmen wollen.
    Lev wusste nicht, was er machen sollte. Betete nur, dass sie, wenn er ihr zeigte, wie die Arbeit in der Podrorskystraße 43 voranging, endlich mit ihm sprechen würde. »Es fängt an, wunderschön auszusehen«, meinte er zu Rudi. »Machen schöne Orte den Menschen nicht Lust, sich dazu zu äußern?«
    »Normalerweise schon«, sagte Rudi.

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