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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Mutter und lasse sie für mich kochen − oder ich esse hier.«
    »Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
    »Ungefähr ein Jahr.«
    »Gefällt Ihnen die Arbeit?«
    »Sie ist okay. Aber ich warte schon auf das neue Baryn, wenn es mehr Arbeit für alle geben wird.«
    »Das neue Baryn?«
    »Ja. Wenn der Staudamm fertig ist, werden sie den Name der Stadt ändern. Offiziell soll sie dann ›Neu-Baryn‹ heißen.«
    Als sie ihre Mahlzeit aus Rote-Bete-Suppe und Seegrasraviolibeendet hatten und inzwischen die einzigen Gäste in der Brasserie waren, luden sie Eva auf ein Getränk ein. Sie setzte sich zu ihnen und trank den Weißwein, den sie bestellt hatten, und Lev fand es schwierig, sie nicht anzustarren. Er hätte sie am liebsten gebeten, ihr Samtband zu lösen, das ihr Haar zusammenhielt.
    Nach ein bisschen Geplauder zum Warmwerden erzählte Rudi ihr, sie seien aus Auror.
    Eva sah die beiden bestürzt an. »Es tut mir leid«, sagte sie, »ach, es tut mir so leid. Das mit dem Staudamm hätte ich nicht sagen sollen ...«
    Lev nahm die Gelegenheit wahr und streckte die Hand aus, um ihren Arm leicht zu berühren. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wir haben Pläne. Große Pläne. Wir werden Teil des neuen Baryn sein.«
    »Ja?«
    »Ja. Stimmt doch, Rudi?«
    »Wir werden das neue Baryn sein ! Wir werden die Verkörperung seines neuen Geists sein.«
    »Ja? Wie das denn?«
    Levs Hand lag immer noch auf Evas Arm. Er ließ sie dort liegen, und Eva zog ihren Arm nicht weg. Der Maître, blau angeleuchtet auf seinem Posten, blickte zu ihnen herüber. Rudi sagte: »Unsere Pläne sind im Augenblick noch geheim. Aber wie wär’s, hätten Sie nicht Lust auf eine Fahrt in meinem großen amerikanischen Auto, und wir würden es Ihnen ins Ohr flüstern?«
    Jetzt wurde sie rot. Sie nahm ihren Arm weg. »Das geht nicht«, sagte sie. »Ich muss nach Hause zu meiner Mutter, sonst macht sie sich Sorgen. Aber vielleicht kommen Sie wieder hierher und ... probieren das kalte Reh?«
    »Ja«, sagte Lev. »Morgen Abend?«
    Es war spät, als Lev und Rudi die Brasserie verließen, aber aus einer plötzlichen Laune heraus fuhr Rudi zur Peripheriezone am Nordufer des Flusses.
    Er parkte den Tschewi, sie stiegen aus, standen in leise fallendem Schnee. Sie sahen, dass der Müllberg größtenteils beseitigt worden war und offenbar fünf Wohnkomplexe dort entstanden.
    Sie starrten auf die Baustelle und auf das Wasser des Flusses, das von einem eisigen Mond beleuchtet wurde. Und beide hatten denselben Gedanken: Trotz all ihrer Begeisterung für das Restaurantprojekt konnten sie sich nur schwer vorstellen, dass ihr Leben demnächst hier stattfinden sollte, an diesem heruntergekommenen Ende der Stadt, an einem Ort, der immer noch nach Müll stank. Lev blickte auf die Erdhügel und den Abfallberg, auf die mit gelblichem Schlamm gefüllten Pfützen, die rostigen Kräne und das aufgestapelte minderwertige Baumaterial. »Schwer, sich das hier als Heimat vorzustellen«, sagte er.
    »Ja«, sagte Rudi.
    Schweigend standen sie da und ließen sich still beschneien. Und das Herz wollte Lev zerspringen vor Trauer um Auror, um ihr altes, windschiefes, sorgenzerfressenes Dorf.

24
Podrorskystraße 43
    An dem Tag, als sie Auror für immer verließen, kleidete Ina sich in ihr Witwenschwarz, trat aus dem Haus, ging an Lev und Rudi vorbei und legte sich auf die staubige Straße. Die zwei Männer, die Levs gebraucht gekauften Kleinlastwagen mit Möbeln beluden, starrten sie an, aber keiner der beiden unternahm etwas.
    »Spricht sie irgendwie ein Gebet oder was?«, fragte Rudi.
    »Ich weiß es nicht«, sagte Lev. »Ich weiß nie, was sie tut oder denkt.«
    Sie luden die letzten Möbel ein. Sahen, wie Ina mit der Hand im Boden scharrte, Erde sammelte und sich über Kopf und Schultern streute. Dann begann sie laut zu wehklagen.
    Lev hielt inne, lehnte sich gegen den Laster. Er hatte es kommen sehen, tief im Innersten gewusst, trotz Lydias beruhigenden Zuspruchs − seine Mutter würde die Zukunft ruinieren. Er hämmerte mit der Faust auf das Wagendach, und das Echo in seinem Kopf war wie eine Explosion. Zorn wallte in ihm hoch, ein Zorn, so bitter, dass er ihn geradezu schmecken konnte. In diesem Augenblick wäre er am liebsten so lange auf dem ausgestreckten Körper von Ina herumgetrampelt, bis er ihren Hals knacken hörte. Als Rudi sagte: »Soll ich ihr helfen aufzustehen?«, erwiderte er: »Nein. Lass sie da liegen.«
    Maya kam aus dem Haus, die Puppe Lili an sich gedrückt.

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