Der weite Weg nach Hause
spräche Lev in einer Sprache zu ihr, von der er wirklich nicht erwarten konnte, dass sie sie verstand.
Rudi kam mit fünf Styroporschachteln zurück − ein Hamburger für jeden, auch für die Maler.
Lev war nicht hungrig und rührte seine Schachtel nicht an. Aber er stellte Ina einen weißen Porzellanteller hin und legte ihren Hamburger darauf, und sie senkte den Kopf und betrachtete ihn. Rudi langte herüber und riss ihr kleines Tütchen mit Tomatenketchup auf, hob den Deckel ihres Brötchens und quetschte das Ketchup auf das Fleisch.
»Iss«, sagte er. »So geht das.«
Er nahm seinen Hamburger in seine großen Pranken und biss ein gewaltiges Stück ab. Der Zwiebelgeruch war unangenehm und erinnerte Lev an Fahrten in der Londoner U-Bahn. Er wäre am liebsten fortgegangen − fort von Rudi und Ina. Vor Müdigkeit und Enttäuschung fing er innerlich an zu zittern, allerdings seltsam erregt. Er sehnte sich danach, in einem dunklen Zimmer mit einer Frau im Bett zu liegen.
Er sah, wie Ina ihren Hamburger nahm. Er sah, wie ihr schmaler Mund sich öffnete und eine winzige Ecke vom Brötchen darin verschwand.
»Lecker, nicht?«, sagte Rudi. »Und so saftig.«
Sie aß weiter, knabberte wie ein Schaf. Fett glänzte auf ihrem Kinn, und Lev hätte es gern weggewischt, ließ es aber sein. Er saß regungslos da, und vor seinem inneren Auge tauchten Bilder von Sophie auf, die er vergeblich zu vertreiben suchte.
Rudi hatte seinen Hamburger schon aufgegessen und machte sich über Levs her. Er gab es auf, Ina ins Gespräch zu ziehen, und wandte sich an Lev: »Ich hab gerade was gesehen, als ich rausging: Sie haben den neuen Laden nebenan aufgemacht.«
Lev spürte, wie ihm das Herz stehen blieb. Alles, was in Neu-Baryn passierte, betraf ihn in irgendeiner Weise. Er wusste, dass der Erfolg oder Misserfolg seines Unternehmens nicht nur davon abhing, wie gut er als Koch sein würde, sondern auch von allem, was um ihn herum in der Stadt geschah. Er wusste, vor ihm lag noch ein schwieriger und mühsamer Weg.
»Nichts mehr mit Gesangbüchern oder alten, angerosteten Oboen«, fuhr Rudi fort. »Wahrscheinlich ist das alles unter der Erde, zusammen mit ihrem kettenrauchenden Besitzer. Aber du rätst nie, was da jetzt für ein Laden drin ist.«
»Sag bloß, noch ein Restaurant«, meinte Lev müde.
»Nein«, sagte Rudi. »Wart’s ab. Eine Kunstgalerie.«
Bei diesen ungewohnten Worten blickte Ina auf. Sie rülpste leise.
Lev ging zum Schlafen zu Eva.
Sie lebte jetzt nicht mehr bei ihrer Mutter, sondern in einem gemieteten Zimmer nicht weit von der Podrorskystraße. Dieses Zimmer lag hoch oben unter dem Dach eines alten Backsteingebäudes. Tauben, die auf den Dachziegeln herumtrippelten, Nachtwache hielten und mit Brautwerbung beschäftigt waren, machten viel Lärm − als rumorten dort oben Ratten −, und Lev schlief schlecht.
Im Licht des frühen Morgens betrachtete er Eva. Eine gebogene Nase. Schwarzes Haar, über das Kissen gebreitet. Kleine Brüste, weiß und weich. Er rief sich selbst ins Gedächtnis, doch, ja, Eva war schön, doch, ja, er hatte Glück, dass sie ihn wollte. Und trotzdem fühlte er sich jedes Mal, wenn er in sie drang, schuldig. Manchmal hatte er Erektionsprobleme, direkt hier in ihren Armen.
»Wieso?«, sagte Rudi. »Das kapier ich nicht. Sie ist 36 Jahre alt. Sie hat ein Lächeln wie die Mona Lisa. Und sie himmelt dich an. Was ist los mit dir?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lev. »Es ist einfach so.«
»Wieso? Erklär mir das, Kumpel. Weil ich da keinen Sinn drin sehe.«
Lev sah durchaus einen Sinn darin, aber der war ihm peinlich, ein wenig schämte er sich deswegen, weshalb er nicht darüber reden mochte − nicht einmal mit Rudi. Anfangs, nach dem ersten Kennenlernen, hatte er geglaubt, er könne Eva vielleicht lieben. Er hatte sich gefragt, ob es nicht vielleicht doch eine gemeinsame Zukunft für sie geben könnte. Eines Nachts, als der Vollmond in ihr schräges Dachfenster schien, hatte sie geflüstert, sie wünsche sich ein Kind von ihm.
»Lev«, sagte sie, »wäre das nicht schön für dich? Noch einmal Vater zu werden?«
Er lag schweigend neben Eva und rauchte eine Zigarette. Die Antwort, die er ihr jetzt geben musste, lag ihm schwer und sauer wie Roggenbrot im Magen. Er erklärte ihr, es sei schonschwierig genug, für Maya ein Vater zu sein: Er könne sich nicht vorstellen, das Ganze noch einmal von vorn zu beginnen. Er sagte, jetzt wolle er nur noch der Vater seines Restaurants sein, das
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