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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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kam auf ihn zu. Unter seiner Kappe warf er ihr einen Blick zu. Sie war blass und hübsch und hatte sommersprossige Arme, und sie trat ganz dicht an ihn heran, so dass er ihre Sonnenmilch riechen konnte.
    »Das ist ein privater Garten«, sagte sie.
    »Ja?«, sagte Lev.
    »Ja. Dieser Garten ist nur für Anwohner. Würden Sie also ... weggehen, bitte?«
    Lev blickte an der jungen Frau vorbei zu ihrer Gruppe von Freundinnen, und er sah, dass sie die Kinder von den Schaukeln gerufen und ihre Arme um sie gelegt hatten, und er begriff, dass sie ihn für einen Kriminellen von der Sorte hielten, die in der Yarbler Justizvollzugsanstalt drangsaliert und geächtet wurden und über die die Gesellschaft nicht gerne sprach.
    »Sie glauben ...«, begann er, hielt dann inne. Ihm fehlten die Worte, aber er spürte, dass er, selbst wenn er sie gewusst hätte, es nicht über sich gebracht hätte, von sich selbst so zu sprechen. Die sommersprossige junge Frau hatte sich, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihm aufgebaut. Lev hätte gern gesagt, dass er eine Tochter hatte, die so alt war wie die Kinder im Garten, dass Maya in ebendiesem Augenblick mit ihrem kleinen Ranzen in den abgetragenen Schuhen auf dem Heimweg von der Schule war ...
    »Okay?«, sagte die junge Frau. »Sie gehen jetzt. Verstanden?«
    Lev schüttelte den Kopf, in dem Versuch, ihr zu zeigen, dass sie ihn falsch gedeutet hatte, dass er ein guter Mann war, ein liebender Vater, aber sein Kopfschütteln alarmierte die Frau, und sie rief ihren Freundinnen zu: »Er will nicht gehen. Ruft bitte jemand die Polizei?«
    »Nein«, sagte Lev. »Keine Polizei ...«
    »Dann gehen Sie.«
    »Ich bin neu«, sagte Lev. »Ich suche nur meinen Weg durch viele Straßen.«
    Die Frau seufzte, als eine ihrer Freundinnen dazustieß. »Bekloppter«, sagte sie. »Bekloppter Ausländer. Wahrscheinlich harmlos.«
    »Okay«, sagte die Freundin und näherte sich Lev. » Pissez – weg, verstanden? Comprendo? «
    Am späten Nachmittag, als alle Prospekte verteilt waren, begannen ihn Hunger und Durst zu quälen. Er dachte sehnsüchtig an Lydias hart gekochte Eier.
    Ihm war klar, dass er die Orientierung verloren hatte. Er wünschte, er hätte eine Spur aus Prospekten hinterlassen, die ihm den Weg wieder dorthin zurück weisen würde, woher er gekommen war. Er blieb stehen und blickte um sich, starrte nach links und rechts, links und rechts. Dann ging er weiter und versuchte, sich zu erinnern, welchen Weg er genommen hatte.
    Als er schließlich in Ahmeds Kebabladen ankam, drängte sich dort eine Gruppe arabischer Männer, die Fleisch in Brottaschen aßen und Kaffee aus Papptassen tranken. Der Geruch nach Hammelfleisch kam Lev jetzt beinah süß und fast aromatisch vor, und er ging nach vorne zu Ahmeds Theke und legte die leere Tüte ab.
    »Prospekte weg«, sagte er.
    Ahmed hatte Lev den Rücken zugekehrt. Er raspelte Fleisch von dem Kegel, Schweiß schimmerte auf seinen Armen.
    »Was ich hoffe, mein Freund«, sagte Ahmed nach einem Augenblick, »ist, dass du jeden einzelnen in einen Briefkasten geworfen hast. Es gab Verteiler, die meine Prospekte einfach in den Scheißmüll schmissen und dann von mir Geld wollten, und obwohl ich ein sehr freundlicher Muslim bin, fang ich dann an, im Quadrat zu springen.«
    Die arabischen Männer um ihn herum begannen zu lachen.
    Lachten sie über das, was er gesagt hatte? Lev fielen die Worte seines Englischlehrers wieder ein: »In einer fremden Sprache stellt sich die Bedeutung manchmal erst eine Weile, nachdem die Worte gesagt worden sind, ein.«
    Ahmed begann drei Brottaschen mit Fleisch und Salat zu füllen. Er legte sie auf die Theke für seine arabischen Freunde und wandte sich seiner Kaffeemaschine zu. Lev musste feststellen, dass Ahmeds Stimmung sich seit dem Morgen verändert hatte. Er sah zu, wie Ahmed Kaffee ausschenkte und Geld entgegennahm und es in seine raffinierte Registrierkasse legte, die keine Klingel hatte, wie die Ladenkassen in Levs Land, sondern nur einen zustimmenden kleinen schnurrenden Laut von sichgab, wenn die Schublade sich öffnete, um die Scheine zu empfangen. Lev starrte auf die Kasse. Er sah, wie Ahmeds breite Hand darauf ruhte, und, nach einem kurzen Zögern, zog die Hand einen grünen Schein heraus und schloss die Schublade. Ahmed kam wieder herüber zu Lev. Er legte den Schein auf die Theke.
    »Hier«, sagte er. »Fünf Pfund. 200 Prospekte. Ich bin großzügig. Okay. Und ich vertraue dir, weil ich ein sehr freundlicher Mensch bin.

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