Der weite Weg nach Hause
daran, sie zu fragen, ob er bleiben könne, wenn er sich um die Pflanzen kümmerte, aber er hörte Rudi spöttisch lachen und sagen: »Na klar, Lev. Sie werden entzückt sein über diesen völlig fremden Menschen, der ihre Hauswand als Toilettebenutzt und ihr Kohlenloch mit seinem menschlichen Gestell verstopft − und das alles dafür, dass er ihnen ein paar Minuten lang ihre Topfpflanzen gießt. Ja, ich bin sicher, sie werden das für ihren Glückstag halten!«
Nach einer Weile hörte der stille Regen auf, und die Sonne schien auf die nassen Blätter. Die Straße war lauter als vorher, und Lev spürte, wie der Pulsschlag der Stadt sich beschleunigte, als die Menschen sich auf den Arbeitstag vorbereiteten. Er war jetzt sicher, dass Kowalski und Shepard, wer immer sie sein mochten, nicht zu Hause waren; sie hatten alles ordentlich hinterlassen, den Schlauch sauber aufgerollt und den Messingtürklopfer poliert, aber sie waren irgendwo anders.
Ahmed zog gerade das Gitter vor seinem Kebabladen hoch, als Lev mit seiner Tasche anspaziert kam.
»Gut«, sagte Ahmed, lächelte und zeigte sein kräftiges Gebiss. »Mein Prospektemann. Bereit für einen neuen Tag?«
Lev fragte Ahmed, ob er einen Waschraum habe, den er benutzen könne, und Ahmed führte ihn durch den Fliegenvorhang in einen dunklen Flur, in dem sich Kartons mit Cola und Papptellern stapelten, und am Ende des Flurs war eine geflieste Toilette mit einem Waschbecken und einem Plastikspiegel. Der Raum hatte kein Fenster, und der frisch mit einem Desinfektionsmittel gereinigte Boden war mit Zeitungen ausgelegt, damit er schneller trocknete. Auf einer dieser Seiten, nahe beim Waschbecken, war das Foto einer Frau oben ohne.
Lev rasierte und wusch sich. Die Anwesenheit der fast nackten Frau irritierte ihn. Seit Marinas Tod ertrug er den Gedanken an Sex nicht. Eines Abends hatte er zu Rudi gesagt: »Ich könnte jetzt ein Mönch sein. Es würde mir nichts ausmachen.« Und Rudi hatte entgegnet: »Klar, das verstehe ich, Kumpel. Aber das geht vorüber, weil alles verdammt noch mal vorüber geht. Eines Tages wirst du wieder zum Leben erwachen.«
Dieser Tag schien noch in weiter Ferne. Lev starrte auf dasFoto. Wie konnte solch ein Bild in einer überregionalen Zeitung stehen? Das Fotomodell hatte groteske, kürbisgroße Brüste und dicke, feuchte Lippen, und alles, was es anhatte, war ein paillettenbesetztes Tangahöschen. Er wünschte, das Mädchen wäre tot. Er wünschte, die Person, die es fotografiert hatte, wäre tot. Er wünschte, das Ausüben von Geschlechtsverkehr wäre ausgestorben, so wie das Sammeln alter Briefmarken oder das Anbringen von gerahmten Bildern kommunistischer Führer an der Wand ...
Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist ein Hund, dachte er, ein gemeiner, läufiger Hund, mit gefletschten Zähnen und hartem rotem Schwanz und stinkenden Speichelfäden, die aus seiner gierigen Schnauze hängen ...
Er trat mit dem Absatz seines Schuhs auf das Bild. Nahm sein Handtuch aus der Tasche und trocknete sich ab. Er starrte auf sein Gesicht in dem Plastikspiegel und versuchte, darin irgendeinen Glanz, einen Ausdruck zu entdecken, den er bewundern könnte, aber im hässlichen Licht dieser Toilette wirkte sein Gesicht gelb und geisterhaft, kaum menschlich. In seinen Augen war kein Glanz.
Und er spürte, wie sie ihn jetzt überwältigte − so wie es von Zeit zu Zeit offenbar nötig war −, seine Trauer um Marinas Tod. Nur 36 Jahre hatte sie gelebt. Sechsunddreißig Jahre . Sie war eine wunderschöne Frau mit einer Stimme gewesen, der man anhörte, wie gerne sie lachte. Jeden Morgen ging sie in einer sauberen weißen Bluse zur Arbeit in die Buchhaltungsabteilung des Baudezernats von Baryn. Abends zog sie eine gestreifte Schürze an und sang, während sie das Abendessen zubereitete. Geduldig wie eine Madonna wiegte sie ihr Kind in seinem kleinen Bettchen in den Schlaf. In einer Sommernacht tanzte sie Tango in roten Schuhen. Viele Monate lang nähte sie aus Stoffresten eine Decke. Sie schlief mit Lev wie eine verrückte Zigeunerin, ihr dunkles Haar über seinem Gesicht. Sie war vollkommen, und sie war nicht mehr ...
Lev wusste, dass es kein geeigneter Ort war, um zu weinen.
Er versuchte, sich so zu verhalten, wie Rudi es getan hätte, zu fluchen oder mit den Füßen zu stampfen, um die aufsteigenden Tränen zu stoppen, aber sie erstickten ihn, sie mussten heraus. Lev presste sich das feuchte Handtuch ins Gesicht und betete, sein Kummer möge vergehen, wie ein
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