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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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An seinem Rücken hatte er mit einem Seil Holzreste festgebunden, die er aus dem Lager mitgenommen hatte und aus denen er einen niedrigen Anhänger für sein Rad bauen wollte. Dieser Anhänger (für den er schon einen einfachen Entwurf gezeichnet hatte) würde die nützlichste Sache sein, die er jemals gemacht hatte. Es würde der Gegenstand sein, der den Transport zahlloser anderer Gegenstände möglich machte, deren Besitz im Laufe der Zeit unweigerlich notwendig erscheinen würde. »Das tut das Leben nämlich«, hatte Rudi verkündet. »Vor deinen Augen schafft es Löcher, die du dann mit Dingen stopfen musst.«
    Die Holzstücke lagen schräg auf seiner Wirbelsäule. Der Vorarbeiter in der Baryner Sägemühle hatte ein Auge zugedrückt, als Lev die Holzreste einsammelte − oder jedenfalls ein halbes. Er hatte nur zu Lev gesagt: »Du weißt, dass eine kleineStrafe fällig ist. Nichts Ernsthaftes. Ein paar Eier würden schon reichen. Oder ein Metallarmband für meine Frau.«
    Die Straße nach Auror war schmal und steil. Es war ein später Nachmittag im Frühsommer, und Lev schwitzte beim Treten, und das Seil schnitt ihm in die Schultern, und er betete, dass die Reifen unter dem Gewicht von Mann und Holz nicht platzten.
    Auf dem einzigen ebenen Stück Straße mit tiefen Gräben zu beiden Seiten kam ihm ein Traktor entgegen. An den Traktor war ein voll beladener Heuwagen gekoppelt, und Lev fiel auf, wie die Ballen wippten und schwankten, während der Traktor näher kam. Er sagte sich, er sollte besser absteigen und von der Straße gehen, damit die Ladung passieren konnte, aber mit dem an seinem Rücken festgebundenen Holz würde das schwierig sein, deshalb beschloss er, lieber weiterzufahren, ruhig und stur geradeaus, denn auf diesem Straßenabschnitt war Platz für ein Rad und einen Anhänger, und der Traktorfahrer würde ihn rechtzeitig genug sehen und verlangsamen.
    Aber der Traktor wurde nicht langsamer. Er kam auf ihn zu, mit seinem röhrenden Motor und seinen hohen Rädern, und dann erreichte er Lev und fuhr vorbei, aber hinten auf dem Anhänger ragte ein Ballen etwas weiter heraus als die anderen, und dieser Ballen streifte das Holz, das an Levs Rücken geschnallt war, und Lev fiel seitwärts vom Rad und in den Graben.
    Für einen Moment wurde alles dunkel. Dann kehrte das Licht wieder zurück, und Lev starrte hoch in den Himmel, der voller unschuldiger rosiger Sommerabendwölkchen war, und er versuchte, aus diesem Anblick Kraft zu schöpfen, aber der Schmerz in seinem Rücken und in seinen ausgestreckten Armen war heftig, und er konnte fühlen, wie das Holz gegen seine Knochen drückte, und er dachte, dass offenbar gerade irgendeine Art von Kreuzigung stattfand. Aber weshalb wurde er gekreuzigt? Weil er seinen Vater nicht liebte? Weil er sich nicht wie Rudi durchs Leben biss und boxte? Weil er in einer grauen Hängematte lag, wenn ihn die Traurigkeit überfiel?
    Er wusste es nicht. Das Einzige, was er begriff, war, dass er versuchen musste aufzustehen, von diesem Holzkreuz freizukommen, seine Fahrt fortzusetzen.

4
Elektrisches Blau
    Als Lev erwachte, war Tageslicht, blass wie Milch, in die Kellerregion gekrochen, und ein sanfter Regen fiel. Regungslos lag er da und sah, erfrischt vom Schlaf, dem Regen zu und dachte, dass er ihn so noch nie wahrgenommen hatte, so fein, dass er kaum zu fallen schien, und doch legte er seinen Schimmer auf die Lorbeerblätter und die Hortensienblüten und die grauen Steine des Hofs.
    An der Außenwand von Kowalski und Shepards Wohnung war ein Fallrohr angebracht mit einer Abflussrinne darunter, und ein Gartenschlauch hing aufgerollt über dem Wasserhahn. Lev krabbelte aus seinem Versteck, kroch zum Wasserhahn und horchte. Ein paar Autos fuhren auf der Straße vorbei, aber er wusste, dass es noch früh war; kein Geräusch aus der Wohnung, keine getigerte Katze in Sicht. So leise Lev konnte, pinkelte er in die Abflussrinne, drehte dann den Hahn auf, spülte seine Hände ab und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Dann kehrte er zu seinem Schlafplatz zurück und legte sich wieder hin, den Kopf auf Inas Pullover, zu dem, wie ihm jetzt einfiel, die Engländer »Jumper« sagen würden, und er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses Wort entstanden war. Er steckte sich eine Zigarette an.
    Er lag da und rauchte und wartete darauf, dass die gelbe Tür aufging. Er hatte keine Angst vor dem Moment, wo er entdeckt werden würde, war nur neugierig auf Kowalski und Shepard. Halb dachte er

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