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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Pappkarton auf die Theke, randvoll mit Schwarz-weiß-Prospekten, auf denen der Name Ahmed ’s Kebabs in kringeliger, hinten wegkippender Schreibschrift stand. Ahmed ließ die Faust stolz auf den Packen sausen. »Deine Arbeit«, sagte er. »Prospekte verteilen. Okay?«
    »Ja?«
    »Ja. Überall hier in der Gegend. Alles, was bewohnt aussieht. Schicke Häuser. Schäbige Häuser. Apartments. B & Bs. Jede private Tür. Guck besonders in den Kellern nach. Viele Kebab-Leute wohnen im Keller. Die Hotels lass aus. Für jeden Prospekt, den du ablieferst, zahl ich dir zwei Pence. Zehn Häuser, zwanzig Pence. Hundert Häuser, zwei Pfund. Vielleicht bist du ja ein gottloser Mann, Lev, aber heute hat Allah dich angelächelt.«
    Da war noch die Frage der Tasche.
    Weil sie alles enthielt, was Lev besaß, mochte er sich nicht von ihr trennen, aber er wusste, dass er nicht in der Lage sein würde, mit diesem Hindernis von Haus zu Haus zu wandern. Er überlegte, ob er sie wie einen Rucksack tragen sollte, indem er die Arme durch die beiden Griffe steckte, aber er ahnte, wie sehr sie drücken würde, also blieb Lev ruhig und entschied, Ahmed zu vertrauen und die Tasche bei ihm stehen zu lassen und nicht mehr daran zu denken, weil die Dinge, die sie enthielt, nur für ihn einen Wert besaßen.
    Bevor Lev aufbrach, zwang er sich, noch ein paar Bissen von dem Kebab zu nehmen. Irgendetwas würde ihn aufrecht halten müssen in den Stunden, die vor ihm lagen, wenn die Mittagshitzekam und er in dieser Hitze verloren sein würde, verloren im Labyrinth grauer Straßen. Trotzdem war er froh. Bei dieser Arbeit würde er nicht sprechen oder Menschen, die mit ihm sprachen, verstehen müssen. Er würde wieder allein sein mit seinen vertrauten Träumereien.
    Ahmed steckte die Hälfte der Prospekte in eine Plastiktüte und reichte sie Lev. Lev konnte nicht abschätzen, wie viele Prospekte in der Tüte waren, aber sie war schwer, und er ahnte, dass die Plastikgriffe ihm in die Hände schneiden würden. Er wünschte, er hätte den kleinen Segeltuchbeutel dabei, mit dem er vor langer Zeit zur Schule gegangen war, damals, als die Schule in Auror noch ihre Eisenglocke besaß und man oben über den Hügeln Adler sehen konnte. Plötzlich ertappte er sich bei der Frage, was wohl aus der Glocke und aus den Adlern geworden sein mochte, aber er wusste, dass solche Gedanken im Augenblick etwas unpassend waren und verscheucht werden mussten. »Die meisten Dinge verschwinden«, hörte er Rudi sagen. »Sieh verdammt noch mal zu, dass ein paar davon in deiner Tasche verschwinden.«
    Er trat hinaus in die Sonne. Er kam an einem Blumenstand mit Rosen, Lilien und Kornblumen vorbei, und ihr Duft mitten in der Stadt überraschte Lev, als hätte er geglaubt, Blumen verströmten ihr Aroma nur, wenn die Luft schwieg.
    Er wusste, dass er sofort mit dem Verteilen der Prospekte beginnen sollte, deshalb bog er von der belebten Earls Court Road ab und landete in einer Straße mit hohen Häusern, die sich gar nicht so sehr von der unterschied, in der seiner Vorstellung nach die Immigranten wohnten, die Wodka aus Kartoffeln brannten, nur dass diese Gebäude eine gewisse Würde ausstrahlten, die er so nicht vorausgeahnt hatte. Einige wirkten gepflegt, mit frisch gestrichenen Zäunen und dicken Säulen, die weiß oder cremefarben in den heißen Tag strahlten; andere sahen vernachlässigt aus, fast schon baufällig, mit Rissen in den Fenstersimsen und Mülltüten, die einfach vorne auf den Treppenstufenabgestellt worden waren. Lev bemerkte, dass es überall, wo er hinschaute, dieses Nebeneinander von gut erhaltenen und zerfallenden Dingen gab, und das fand er tröstlich, so als hätte er doch noch einen Beweis für Kriegsschäden in London entdeckt, die niemand hatte beseitigen können.
    Er nahm einen Stapel von Ahmeds Prospekten und steckte sie in den Briefkasten des ersten Hauses. Unter Ahmed ’s Kebabs standen die Worte Bestes Luxus-Halal-Fleisch, beste Preise in Ihrem Viertel; auch zum Mitnehmen; freundliche Bedienung zu jeder Zeit , aber für Lev ergaben nur einige dieser Wörter überhaupt einen Sinn. Das »Beste« war, wie er wusste, ein wichtiger Begriff, der in seinem Land nur selten angewendet wurde, außer von Leuten wie Rudi, dem es ein Bedürfnis war, sich mit Wundern zu schmücken, weshalb sogar seine Stiefel bewunderungswürdig zu sein hatten und seine Rasiercreme angeblich die Macht besaß, Frauen und Männer gleichermaßen zu verführen. »Freundliche Bedienung«

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