Der weite Weg nach Hause
empfand Lev als Widerspruch, wenn er an die wenigen Restaurants dachte, die er in seinem Land besucht hatte, damals, als Marina noch lebte und er ihr mit der Einladung zu einem schönen Essen zeigen wollte, wie viel sie ihm bedeutete. Die Kellner und Kellnerinnen hatten sich benommen wie Aufseher in einem Arbeitslager, hatten ihnen Gerichte mit sehnigem Fleisch hingeknallt, Wein aus schmutzigen Karaffen ausgeschenkt, die Teller weggerissen, ehe sie aufgegessen hatten ...
»Wieso lächelt keiner von euch?«, hatte Marina einmal einen missmutigen Kellner in einer fleckigen Schürze gefragt. Und der Junge − denn er war im Grunde noch ein Junge und kein Mann − hatte sie erstaunt angeblickt.
»Die Gäste anzulächeln würde Sie doch nichts kosten«, hatte Marina freundlich ergänzt, aber der Junge hatte weggeschaut.
»Sie irren sich«, sagte er. »Ein Lächeln würde uns unsere Würde kosten.«
Und danach war er, klack-klack-klack, mit seinen schweren Schuhen zurück in die Küche geeilt, mit den Tellern und den Gläsern und der leeren Karaffe auf einem schiefen Tablett. Marina hatte Levs Hand genommen und gesagt: »Jetzt tut mir der Junge leid. Vorher war ich wütend, und jetzt tut er mir leid, und mit der Wut ging es mir besser!«
Marina.
Es war wichtig, jetzt nicht an sie zu denken. Es war absolut notwendig für sein Überleben, dass er sich nicht in Träumen von ihr verlor.
Lev stieg die paar Stufen zu einem Kellereingang hinunter und fand, fast unter dem Gehsteig versteckt, einen winzigen Garten, der mit Lorbeer und Lavendel und großen Hortensienbüschen bepflanzt war, die zum Licht hoch strebten. Eine getigerte Katze lag zusammengerollt auf der niedrigen Fensterbank der Kellerwohnung und öffnete kaum die Augen, als Lev ein paar weitere Prospekte herausnahm und durch eine leuchtendgelb gestrichene Tür warf. Neben der gelben Tür war eine Klingel mit zwei Namen darüber: Kowalski und Shepard. Lev stand einen Moment davor und schaute auf diese Namen und die gelbe Tür und dann auf den Garten, der mit wenigen Mitteln auf seine bescheidene Weise so wunderschön war, dass er plötzlich und überraschend heftig von Neid auf diese Menschen, Kowalski und Shepard, gepackt wurde. Er stellte sich vor, wie sie von ihrer gut bezahlten Arbeit heimkehrten, ihre Pflanzen gossen, die Katze fütterten, Kebabs bei Ahmed bestellten, Wein oder Wodka besorgten und eng beieinander an ihrem Tisch saßen und aßen und lachten und rauchten und dann, wenn die Nacht hereinbrach, Hand in Hand in ihr Schlafzimmer gingen. Und er dachte: Mein Leben wird nie so sein wie ihrs. Niemals.
Lev ging weiter. Die Tragetasche mit den Prospekten war schon leichter, als er mit den ersten drei Straßen fertig war und zu einem ruhigen Platz kam, wo Kinder, sicher hinter einem Zaun, auf einem unebenen Rasen spielten und die Luft nachLiguster duftete. Er war jetzt in einem Lieferrausch: die Vordertreppe hochgehen, Prospekte rausholen, sie in den Briefkasten werfen, die Treppe runtergehen, noch weiter runter ins Kellergeschoss, die Anzahl der Namen zählen, die richtige Menge Prospekte nehmen, sie einwerfen, wieder hoch ins Sonnenlicht der Straße steigen, weiter zum nächsten Haus ... Seine Beine taten etwas weh, die Lederkappe hatte er gegen das grelle Mittagslicht tief ins Gesicht gezogen, aber er war nicht unglücklich über seine Aufgabe. Nicht mehr lange, rechnete er, und er hätte ein Pfund verdient.
Lev machte eine kurze Pause, lehnte sich an das Tor, das zu dem Garten auf dem Platz führte, beobachtete die Kinder auf mehreren Schaukeln und ihre jungen Mütter, die knapp sitzende kleine Westen und Jeans trugen und im Schatten eines Maulbeerbaums im Gras lagerten. Er steckte sich eine Zigarette an, und sie schmeckte gut, und der Ligusterduft schien mit dem Rauch in seine Lungen zu ziehen, und etwas in dieser Mischung machte Lev hellwach und furchtlos, und er dachte, bei Einbruch der Nacht werde er hierher zurückkehren und unter dem Maulbeerbaum schlafen und das Leben in den Häusern um ihn herum beobachten und auf diese Weise eine neue Vorstellung von London gewinnen − eine geheime Vorstellung. Und es beschwingte ihn, dass er sich einen Platz zum Schlafen gesucht hatte, frei und geheim, einen Ort, wo er Wache halten konnte ...
Doch jetzt sah Lev, dass die jungen Mütter sich umgewandt hatten und ihn anstarrten und dann miteinander flüsterten. Er senkte den Blick. Er verdeckte seine Zigarette mit der Hand. Eine der Frauen stand auf und
Weitere Kostenlose Bücher