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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Möchtest du Kaffee?«
    »Danke«, sagte Lev. »Sehr vielen Dank.«
    Heimatlosigkeit, Hunger, all dies musste für eine Weile ertragen werden, sagte sich Lev. Tausende − sogar Millionen Menschen in der Welt litten Hunger und hatten keinen ordentlichen Platz zum Schlafen. Das hieß nicht zwangsläufig, dass sie starben oder die Hoffnung verloren oder verrückt wurden.
    Aber jetzt, am Ende seines ersten Arbeitstags in London, wurde Lev klar, dass er unmöglich mit dem Verteilen von Prospekten für Ahmed würde überleben können. An einem Obststand hatte er zwei Bananen gekauft, in einer Bäckerei ein weiches, helles Brötchen, in der Post eine Briefmarke für seine Prinzessin-Diana-Karte und in einem Zeitungsladen ein Päckchen Tabak, etwas Zigarettenpapier und eine Flasche Wasser − und dann waren seine fünf Pfund weg.
    Er schleppte seine Tasche in die Straße, wo Kowalski und Shepard wohnten, und als der Abend kam, ging er hinunter zu ihrer Kellerwohnung und setzte sich in die versteckte Ecke unterhalb der Straße, hinter die Lorbeerbäume und die Hortensienbüsche. Im hintersten Winkel seines Verstecks entdeckte er ein paar zusammengelegte Pappkartons, breitete sie aus und setzte sich darauf und aß die Bananen und das helle Brötchen und sah, wie alles um ihn herum dunkel wurde.
    Er wartete, dass Kowalski und Shepard nach Hause kamen. Er konnte sich schon ihre Stimmen vorstellen, die jung seinwürden, und das Licht aus ihren Fenstern würde weich und tröstlich sein. Und er dachte, wenn sie herauskämen, um ihre Bäume zu wässern, und ihn fänden, würde er ihnen schon erklären können, dass er ihr Kellergeschoss wegen der Pflanzen und der gelben Tür ausgesucht hatte, und er würde sie überreden, ihn dort bleiben zu lassen − nur für diese eine Nacht.
    Aber ein Teil von ihm fand es auch dumm, dort zu warten. Über sich auf der Straße hörte er Menschen lachen und Autotüren knallen und die hohen Absätze der Frauen auf dem Gehsteig klacken. Und er suchte sich damit zu beruhigen, dass er, als Marina noch lebte, ebenfalls ein anständiges Leben geführt hatte − wenn auch ein ärmeres als die Sorte Leben hier um ihn herum in London −, und er dachte daran, wie er an Marinas dreißigstem Geburtstag auf dem Baryner Markt ein Paar knallrote Schuhe für sie gefunden hatte, mit sieben Zentimeter hohen Absätzen und vorne offen für die Zehen, und Marina hatte sie angezogen und dazu einen rüschenbesetzten schwarzen Rock und einen von Lora geborgten roten Schal getragen, und sie hatten gebratene Ente gegessen und Bier und Wodka getrunken und auf Rudis Veranda einen Tango getanzt − Rudi und Lora, Marina und Lev − und sich verrückt vor Glück und Verlangen gefühlt. Noch jetzt konnte Lev das herrliche Gewicht von Marinas geschmeidigem Rücken in seinem Arm spüren, konnte im Geiste sehen, wie sexy ihre Schritte in den roten Schuhen klackten, und hören, wie ihr Lachen weit hinauf in die Hügel hinter Auror wehte. Was für eine Nacht. Sogar Rudi hatte sie nie vergessen und sagte manchmal zu Lev: »Dieser Abend an Marinas Geburtstag. Da ist etwas mit uns geschehen, Lev. Wir waren nicht mehr sterblich.«
    Nicht mehr sterblich.
    Jetzt spürte Lev nur noch das Gewicht seines erschöpften Körpers auf den Pappkartons und das gewaltige, nicht zu ermessende Gewicht der Stadt über ihm. Er versuchte, an etwas Positives zu denken: an seine Diana-Karte, die ihre Reise zu Inaund Maya begann; an die Freundlichkeit von Frauen wie Lydia und Sulima; an das Geld, das er verdienen würde, wenn er nur durchhielt und nicht den Mut verlor ...
    Immer noch kam niemand zur Kellerwohnung herunter. Die Katze war verschwunden. Die Straßenlaternen warfen orangefarbene Schatten auf die großen blauen Hortensienblüten. Lev zog die Taschen zu sich heran und nahm einen Pullover heraus, den seine Mutter für ihn gestrickt hatte, faltete ihn zu einem Kissen und legte den Kopf darauf. Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte sie schweigend und sah zu, wie der Rauch sich aus seinem Versteck hinauskräuselte und die dunklen Blätter der Lorbeerbüsche berührte, bevor er sich in Luft auflöste. Und dann wusste Lev, noch bevor die Zigarette zu Ende war, dass er fiel ... hilflos in den Schlaf fiel. Er konnte gerade noch die Hand ausstrecken und die Zigarette ausdrücken, und dann ergab er sich dem tiefen Fall.
    Jetzt beschwor sein träumender Verstand eine Erinnerung herauf. Er fuhr auf seinem Fahrrad vom Baryner Holzhof heim nach Auror.

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