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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Fleischkegel, hobelte geschickt einige Streifen herunter, packte diese in die Tasche und legte sie vor Lev auf den Pappteller. Lev starrte sie an. Das Fleisch roch nach Ziege.
    Jetzt war der Araber an dem Getränkekühlschrank. Er nahm eine grüne Dose heraus, riss die Ringlasche auf und stellte die Dose neben den Teller mit dem Brot und Fleisch. »Trink«, sagte er.
    Lev dankte dem Mann und zog die Dose langsam zu sich heran. Mit der anderen Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Dann hob er die Dose zum Mund und trank, und derAraber beobachtete ihn aufmerksam. Das Wasser kribbelte und fühlte sich auf Levs Zunge fast kratzig an, aber es war herrlich kühl, und so trank er weiter, und während er trank, musste er an Marina denken, wie sie um Wasser gebeten hatte, das kalt und geschmacklos war, und wie sie dann vor Zorn geweint und gesagt hatte, das Krankenhauswasser sei lauwarm und schmecke nach Kloake.
    »Ich bin Ahmed«, sagte der Araber. »Iss bitte. Geht aufs Haus.«
    »Entschuldigung?«, sagte Lev.
    »Du fragst, ob ich was für dich habe. Also gebe ich dir dieses Essen und Wasser. Woher bist du? Irgendwo aus Osteuropa, oder? Also iss. Mein Kebabfleisch ist sehr gut. Geht aufs Haus.« »Aufs Haus?« »Ja, es ist umsonst – frei.«
    Frei.
    Lev kannte dieses Wort sehr gut. Sein Englischlehrer hatte ihm erklärt, dass der Westen sich selbst als die »freie Welt« bezeichnete, und diese Wörter hatten ihn viele Monate lang beschäftigt. Aber wie sollte man sich diese Freiheit vorstellen? In Levs Träumen war sie häufig eine schwarze Straße, die schnurgerade an einem flachen Horizont verlief und auf der ein paar Vögel vor einem weißen Himmel auf und ab flogen, aber es war etwas Asketisches und Unversöhnliches an dieser Landschaft, weshalb er zu Rudi gesagt hatte: »Ich weiß nicht, was es wirklich bedeutet«, und Rudi hatte geantwortet: »Du weißt es nicht, Lev, weil du keine Fahrzeuge auf diese Scheißstraße gesetzt hast! Freiheit bedeutet Geschwindigkeit. Freiheit bedeutet Pferdestärken und Drehzahl. Freiheit bedeutet vier Räder unter deinem Arsch.«
    Lev dankte Ahmed noch einmal für das freie Essen und Wasser. Er versuchte das Kebab-Ding zu essen, gab aber nach einem Bissen auf. Er hätte schrecklich gern geraucht, aber seinebeiden letzten Päckchen steckten tief unten in seiner Tasche, und er war zu verlegen, um danach zu suchen.
    »Du suchst also Arbeit«, sagte Ahmed. »Was für Arbeit denn?«
    »Jede Arbeit«, sagte Lev.
    »Da hast du aber Glück«, sagte Ahmed. »Du bist an den Richtigen geraten, ich bin nämlich Muslim.«
    »Ja?«, sagte Lev.
    »Der Koran lehrt, dass Taten selbstloser Freundlichkeit im Himmel belohnt werden. Ich habe dir kostbares Essen gegeben, und diese Selbstlosigkeit wird mir gelohnt werden. Aber jetzt gehe ich noch weiter. Ich werde dir Arbeit geben.«
    Lev wartete. Er war sich nicht sicher, wie viel er verstanden hatte. Ahmed fragte ihn nach seinem Namen und aus welcher Stadt er gekommen sei, und Lev sagte es ihm, und Ahmed lächelte und sagte: »Ein Mann mag weit reisen, aber sein Herz hält nicht Schritt.«
    »Entschuldigung?«, sagte Lev.
    »Nicht wichtig. Ich erfinde gern Sprichwörter.« Ahmeds Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, dann zu einem Lachen, und das Lachen wurde von all den gekachelten, leeren Flächen zurückgeworfen, und Lev dachte plötzlich: Er spielt sein Spielchen mit mir, und Essen und Trinken werden gar nicht frei sein. Dann verschwand Ahmed durch einen Fliegenvorhang aus Plastik, ganz ähnlich wie der, den Ina im Sommer immer an ihrem Türsturz aufhängte und dessen bunte Farben von der Sonne und der Zeit ausgeblichen waren, und Lev war mit einem Mal allein. Er ging zu seiner Tasche und wühlte mit zitternden Händen so lange darin herum, bis er die Zigaretten fand, riss dann ein Päckchen auf und zündete sich eine an, wobei er das Plastikfeuerzeug benutzte, das er fast dem Sikh im Waschraum vom Bahnhof geschenkt hätte. Er inhalierte tief, genoss diesen ersten Zug, und während er zum Plastikstuhl zurückging, spürte er, wie der Rauch ihn allmählich beruhigte, und er wartete. Ersaß sehr still da und rauchte konzentriert. Das Fleisch drehte sich immer weiter an seinem Spieß. In einer verspiegelten Fläche daneben konnte Lev die Straße in seinem Rücken sehen − mit dem stockenden Verkehr und den vorbeischlurfenden dickbäuchigen Menschen.
    Es schien viel Zeit vergangen zu sein, ehe Ahmed zurückkam. Er stellte einen hohen

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