Der weite Weg nach Hause
...«
»Ja«, sagte Lev. »Klar. Und ich nehme Ihre Hilfe bei den Stellenanzeigen gerne an.«
Lydia schlug die Augen nieder. »In dem Bus«, sagte sie, »habe ich mich so an Sie gewöhnt. Seite an Seite. Es ist lächerlich, ich weiß. Aber ich habe mir vorgemacht, wir würden gemeinsam fahren. Und als ich mich verabschiedete ...«
»Lydia«, sagte Lev sanft, »wir sind nicht gemeinsam gefahren.«
»Ich weiß. Ich weiß. Das ist wirklich dumm von mir.«
»Nein, es ist nicht dumm, aber ...«
Lydia fasste Lev am Handgelenk. Sie hielt es ganz fest. »Darf ich dein Haar berühren, Lev?«, flüsterte sie. »Du hast wunderschönes Haar. So dicht und hübsch. Darf ich es berühren?«
Lev blickte in Lydias glänzendes Gesicht mit seinen braunen Leberfleckentupfern. Da war etwas an ihr, das ihn von Beginn an gerührt hatte − die Art, wie sie diese ordentlich verpackten hart gekochten Eier gegessen hatte, ihre leise Stimme −, aber die Vorstellung, von ihr berührt zu werden, erschreckte ihn.
»Bitte ...«, begann er.
»Nur dein Haar«, sagte Lydia. »Das ist alles.«
»Mein Haar ist staubig«, sagte Lev.
»Das macht mir nichts.«
»Bitte ...«, begann er noch einmal. Aber jetzt streckte Lydia die Hand aus und legte sie mit dem Rücken auf Levs Kopf, direkt über seinem Ohr. Lev bewegte sich nicht. Lydias Hand bewegte sich nicht. Die Zigarette brannte weiter. Lev dachte daran, wie er sich im Laufe des Abends in diesem Zimmer fast glücklich gefühlt hatte, aber jetzt kam ihm dieses Glück schal und kompromittiert vor. Er verfluchte sich dafür, dass er Lydia angerufen hatte.
»Lev«, sagte Lydia mit einer leisen kleinen Kinderstimme, »du weißt, dass du ein sehr gutaussehender Mann bist. Es wäre so traurig, wenn du beschließen würdest, immer allein zu sein. Weißt du denn nicht mehr, wie sich ein Kuss anfühlen kann?«
»Doch«, sagte Lev. »Das weiß ich. Aber jetzt müssen wir beide schlafen.«
So sanft er konnte, fasste er an seinen Kopf und nahm Lydias Hand und legte sie in ihren Schoß, und er sah, wie sie die Augen niederschlug und auf ihre Hand starrte, als wäre sie ein unerwartetes Geschenk, das er dort hingelegt hatte.
»Es ist fast Morgen«, sagte Lev. »Die Vögel singen schon.«
»An Vogelgesang«, sagte Lydia, »bin ich nicht besonders interessiert.«
5
Zwei Komma fünf Meter
Abtropffläche aus Stahl
Mit Lydias Hilfe fand Lev eine Arbeit als Küchenhilfe in einem Restaurant in Clerkenwell. Sie zahlten 5,30 Pfund die Stunde.
Küchenchef und Besitzer des Restaurants GK Ashe war Gregory »GK« Ashe. Der Restaurantmanager Damian, bei dem Lev um drei Uhr nachmittags ein Vorstellungsgespräch hatte, sagte: »GK Ashe ist das neue große Ding in der Stadt. Hörst du, Olev?«
»Ja«, sagte Lev.
Damian war ein blasser Mann mittleren Alters mit rasiertem Schädel. Er war modisch gekleidet, trug einen teuren Anzug und ein Hemd in der Farbe von Limonade. Er hatte ein Lächeln, das schrumpfte und erstarb, sobald es seine Lippen berührte. Damian sah Lev scharf an, ließ den Blick über seinen Körper wandern, inspizierte ihn mit seinen braunen, hellwachen Augen. Dann sagte er: »Du bist dünn. Das ist gut. Mr Ashe möchte, dass seine Angestellten dünn sind. Weil das bedeutet, dass sie wendig sind. Und alle in dieser Küche müssen wendig sein. Wendig, schnell und unermüdlich. Verstehst du, was ich sage?«
»Unermüdlich?«, sagte Lev. »Was ist das?«
»Niemals müde. Niemals zeigen, dass du müde bist, selbst wenn du es bist. Weil die Schichten lang sind, und die musst du durchhalten können. Niemand gähnt hier. Okay? Du unterdrückst es einfach. Wenn ich dich beim Gähnen erwische, fliegt dir eine Bain-Marie an den Kopf.«
»Bain-Marie?«, sagte Lev.
»Und du isst nie, niemals was von den Speisen, kapiert? WennMr Ashe sieht, dass du dir auch nur eine Zitronenschale ins Maul schiebst, bist du weg. Also mach das ja nicht. Um fünf gibt es eine Mahlzeit für die Angestellten. Sie ist leicht, weil wir nicht wollen, dass arbeitende Bäuche proteinbelastet sind, aber du wirst davon leben können. Und manchmal − wenn das Geschäft außerordentlich gut gelaufen ist − wird Mr Ashe so gegen ein Uhr morgens von Großmut gepackt und macht Crostini für uns alle. Und wir trinken ein paar Bier. Und alle sind wie eine Familie. Du wirst sehen.«
Damian lächelte sein rasch verschwindendes Lächeln, und Lev sagte: »Familie ist gut.«
»Ja, klar«, sagte Damian. »Ganz bestimmt. Du hast doch sicher
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