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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Bleibe umzusehen, weil ich so viele Stunden mit Maestro Greszler verbringe, aber Tom und Larissa lassen mich netterweise so lange hier wohnen, wie ich möchte. Ich glaube, das Schicksal ist mir gewogen, und ich weiß wirklich nicht, womit ich all das verdient habe.«
    Lev blickte ihr ins Gesicht, das ein einziges breites, verzücktes Lächeln war, und er dachte, manchmal hält das Leben tatsächlich verborgene Wunder bereit, wie zum Beispiel eine Ladung Weihnachtssterne.
    Lev wollte Lydia gerade gratulieren, da betrat Tom das Zimmer. Im ersten Moment sah er irritiert aus, als habe er nicht erwartet, einen Fremden vorzufinden, aber Larissa sagte rasch: »Tom, Liebling, das ist Lev, Lydias Freund. Du erinnerst dich doch?«
    Tom schaute Lev an, und Lev sah, dass er in gewisser Weise die Verkörperung dessen war, wie er sich die Engländer vorgestellt hatte: Er war hochgewachsen und schmalgliedrig, hatte blaue Augen und farbloses Haar an der Schwelle zu Grau und trug unauffällige Kleidung. Tom schüttelte Lev die Hand und sagte: »Willkommen in London«, und das kam Lev komisch vor, so als ob seine erste Ankunft ein Versehen gewesen und dies der eigentliche Anfang seines neuen Lebens wäre, hier im »Paradies« von Muswell Hill.
    »Vielen Dank«, sagte Lev zu Tom.
    »Also«, sagte Larissa fröhlich, »dann lasst uns doch etwas trinken, Tom.«
    »Klar«, sagte Tom. »Wein? Wodka? Was hättet ihr gern?«
    »Lev mag Wodka«, sagte Lydia rasch.
    »Larissa?«
    »Ja, Wodka. Öffne aber auch einen Weißwein. Es gibt Seebarsch.«
    »Okay«, sagte Tom, »Wein und Wodka sind auf dem Weg.«
    Als Tom in die Küche verschwunden war, fragte Lev Larissa, ob er das Badezimmer benutzen könne. Seine Eingeweide hatten plötzlich begonnen, sich krampfartig zusammenzuziehen. Es war, als hätte sein Enddarm vier Tage lang geschlafen und wäre unpassenderweise ausgerechnet jetzt erwacht.
    Larissa führte ihn zu einem hellen, kleinen Badezimmer, wo Muscheln auf der Fensterbank aufgereiht lagen, weiche weiße Handtücher über einer Holzstange hingen und die Kordel für den Lichtschalter aus Seidenbändern geflochten war. Durch das geöffnete Badezimmerfenster konnte Lev die frische Gartenluft riechen.
    Er betrachtete sein Gesicht in dem glänzenden Spiegelschrank und sah, dass er Ruß- und Schmutzflecken auf den Wangen hatte und dass sein Haar staubig und sein Hemd dreckig war. Er setzte sich auf die Toilette und erleichterte sich, so leise er konnte. Die Vorstellung, dass er in der Wohnung eines englischen Psychotherapeuten scheißen musste, beunruhigte ihn etwas. Als er fertig war, ließ er warmes Wasser in das Waschbecken laufen und seifte Hände und Gesicht ab, zog sein schmutziges Hemd aus, das nach Schweiß und nach Ahmeds Kebabs stank, und wusch sich unter den Achseln und trocknete sich mit einem der weichen weißen Handtücher ab. Er schaute sehnsüchtig auf die Badewanne. Er fand ein sauberes Hemd − sein letztes − in seiner Tasche und zog es an. Es war ein braunweiß kariertes Hemd, das er auf dem Yarbler Markt im Austauschgegen einen Holzhobel und einige 75er Nägel bekommen hatte.
    Er fühlte sich wiederhergestellt.
    Als er aus dem Bad kam, konnte er den schmorenden Fisch riechen. Kaum saß er auf einem der Ledersofas, wurde ihm ein großes Glas Wodka in die Hand gedrückt. Er fragte, ob er rauchen dürfe, und Tom sagte: »Ja, natürlich, natürlich«, und holte ihm einen Aschenbecher. Lev begann mit dem Zeremoniell des Zigarettendrehens, und beim Aufblicken sah er, wie Lydia ihm fürsorglich zulächelte, während er seine kleine Tabakwurst auf dem Rizla-Papier hin und her rollte.
    Das Essen war erstaunlich: eine Tomaten-Paprikasuppe, serviert mit geröstetem Brot, dann der Seebarsch auf einem Fenchelbett mit glasierten neuen Kartoffeln und einem Gurkensalat. Jeder Bissen überraschte ihn von neuem mit seinem exquisiten Geschmack. Er ertappte sich dabei, wie er Larissa anstarrte, erst ihr Gesicht, dann ihre Hände, und sich fragte, über was für ein Wissen sie wohl verfügte, dass Gerichte bei ihr derart köstlich schmecken konnten. Lev aß, so langsam er konnte, indem er immer kleinere Bissen nahm. Als er fertig war, hätte er am liebsten mit der hellroten Suppe wieder von vorne begonnen. Er dachte, genau dieselbe Mahlzeit würde er mit Vergnügen jeden Tag bis ans Ende seines Lebens essen.
    Als der Abend hereinbrach, wurde es allmählich dunkel in dem Raum, und Larissa zündete Kerzen auf dem Tisch an. Lev schaute aus den

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