Der weite Weg nach Hause
eine Familie zu Hause, oder? So macht ihr Jungs das doch − ich habe es selbst gesehen −, ihr schickt euer Geld nach Hause in irgendein Dorf, stimmt’s?«
»Für meine Mutter und für meine Tochter.«
»Ja? Also, du hast ein gutes Herz, das muss ich sagen. Ist deine Frau hier mit dir in England?«
»Nein«, sagte Lev. »Meine Frau ... sie starb.«
»Gut«, sagte Damian. »Gut. Okay. Tut mir leid. Und jetzt komm und sieh dir deine Spülbecken an. Hier sind sie. Zwei Becken und zwei Komma fünf Meter Abtropffläche aus Stahl. Hochmoderner Hygienebereich. Hier die Regale für Tabletts und Teller. Hier die Spülmaschine mit Multiprogrammen für Gläser. Dampfstrahlreiniger. Wasserhahn mit Temperaturregler. Okay, Olev? Mit dieser Ausstattung könntest du für ein ganzes Regiment abwaschen.«
Lev stand an den Spülbecken und schaute auf die stahlverkleidete Wand dahinter und auf die frisch gewaschenen Geschirrtücher aus Leinen, die in einer adretten Reihe an Stahlhaken hingen. Er wünschte, Rudi wäre hier und könnte all das sehen und ehrfürchtig staunen. Er hörte ihn sagen: »Allmächtiger, Lev! Sieh dir diesen irren, blitzenden Scheiß an!«
Lev würde am folgenden Tag um vier Uhr die Arbeit antreten.
»Und vergiss nicht, Olev«, sagte Damian, als er Lev zur Küchentür führte, »eine Restaurantküche funktioniert genau wie ein Orchester. Jeder hat sich zu konzentrieren und das Tempo zu halten. Und es gibt nur einen Dirigenten, und das ist der Küchenchef. Also pass gut auf. Bummel nicht. Mach keine Pausen. Spiel schön dein Instrument. Und spiel es im Takt. Dann ist alles gut. Bis morgen also.«
Lev trat hinaus in die Sonne, drehte sich eine Zigarette und steckte sie an. Auf der anderen Straßenseite saßen ein paar Trinker immer noch um einen Kneipentisch, und ihr Gelächter klang wie Kinderlachen, hemmungslos und laut. Lev setzte sich in ihre Nähe, und eine der Frauen, eine Raucherin, sagte kokett: »Hallo, Süßer!«, und die Männer drehten sich zu Lev um, aber nur einen Moment lang, weil es ihnen ums Trinken ging, und kein Fremder hätte sie davon abhalten können.
Lev bestellte ein Bier. Diese kleine Feier hatte er sich verdient. Jetzt war er Teil der britischen Wirtschaft. Er musste keine Prospekte mehr für Ahmed verteilen. Er konnte Ina noch eine Karte schreiben und ihr erzählen, dass er eine Stelle hatte, bei der er 5,30 Pfund die Stunde bekam, was mehr war, als er in Baryn am Tag verdienen konnte.
Doch dann fiel ihm ein, dass Geld hier im Westen auch neuen Horror bedeutete.
Das Zimmer, das Lydia für ihn in Tufnell Park gefunden hatte, würde neunzig Pfund pro Woche kosten. Dazu kämen die Ausgaben für U-Bahn und Bus, für sein Essen und die Zigaretten. Wie viel würde da übrig bleiben, das er Ina schicken könnte? Würde überhaupt etwas übrig bleiben? Lev schaute zu der jungen Frau hinüber, die ihn »Süßer« genannt hatte. Wie schaffte sie es, zu leben und fett zu werden und die Stunden eines Mittwochnachmittags mit Saufen zu verbummeln? Wie konnte sie sich das leisten? Die Frau stieß ihn ab: ihr vorquellender Bauch, ihre fettige Gesichtshaut, die in der Londoner Sonne glühte. Er blieb lieber für sich und trank sein kaltes Bier allein.Er breitete seinen U-Bahnplan aus und legte seine Route nach Tufnell Park fest.
Es war eine Straße mit engen, kleinen Häusern, die Belisha Road hieß. Die eine Seite lag im tiefen Schatten von Ebereschen. Der Gehsteig war rissig und holperig und verdreckt.
Nummer 12 lag auf der Schattenseite, und eine hohe, ausgeschossene Buchsbaumhecke verdunkelte den Eingang. Hinter der Hecke standen überquellende Mülleimer und ein Fahrrad, das an ein Fenstergitter angeschlossen war.
Lev drückte den obersten Klingelknopf neben einem Kärtchen, auf dem C. Slane stand.
Er wartete. Er stellte seine Tasche neben sich auf die Treppe. Irgendwo in der Straße bellte ein Hund, und ein Kind in einem Kinderwagen strampelte und schrie. Die Vogelbeeren an den Ebereschen wurden schon golden.
Als die Tür sich öffnete, sah Lev einen kleinen, gnomartigen Mann mit blassen, nervösen Augen und einem Ekzem auf der Nase. Er trug ein altes weißes T-Shirt und verblichene Jeans, die für seinen schmalen Körper zu weit waren.
»Mister Slane?«, sagte Lev.
»Ja. Christy Slane. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich habe schon auf Sie gewartet. Ihre Freundin Lydia hat mich wegen des Zimmers angerufen.«
In dem dunklen Flur lagen mehrere Turnschuhe auf einem
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