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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Pausenhof, ich seh sie herumtollen. Aber ich darf mich ihr nicht nähern. Die Lehrer haben Anweisungen: Ich darf nicht versuchen, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Ich werde für eine Art ›unkalkulierbares Risiko‹ gehalten, weil ich mal ein paar Teller und Gläser zerbrochen habe. Also muss ich jetzt vor Gericht ziehen und meine Rechte zurückverlangen, meine Rechte als Vater − meine Rechte als menschliches Wesen. Und wenn ich nun verliere? Ich versuche, nicht mehr zu trinken. Sie können mir helfen, Lev. Sie sind ein disziplinierter Mann, das merke ich. Ich möchte gern, dass Sie mir helfen. Passen Sie auf, dass ich nicht in die Kneipe gehe. Und wenn ich zu Hause eine Flasche Guinness aufmache, versuchen Sie, mir das verdammte Ding wegzunehmen. Ja? Nehmen Sie es einfach und schütten Sie es in den Ausguss.«
    »Ja«, sagte Lev. »Ich versuche. Aber ich muss viele Stunden im GK Ashe arbeiten.«
    »Klar müssen Sie das. Das habe ich einen Moment lang vergessen − ich dachte halt, wir könnten hier die ganze nächste Zeit sitzen und Tee trinken! Ich finde es schön, wenn alles hübsch ruhig ist, so wie jetzt. Tässchen Tee, Zigarette. Stille. Das finde ich schön.«
    »Ja«, sagte Lev. »Ich finde auch schön.«
    »Dann erzählen Sie mir mal von Ihrer Tochter.«
    Lev nahm seine Brieftasche und holte das Foto von Maya heraus, das er darin aufbewahrte. Er reichte es Christy. Er konnte sich noch sehr genau an den weichen Stoff des Wollkleids erinnern, das Maya an jenem Tag getragen hatte. Er sah, wie Christy das Bild liebevoll betrachtete.
    »Mädchen«, sagte er. »So bezaubernd. Sind sie doch, oder? So süß und lieb. Können kein Wässerchen trüben und so weiter. Und dann, peng, kehren sie dir den Rücken. Sie sagen, sie hassen dich. Sie brechen dir das Herz.«
    Er gab ihm das Foto zurück, und Lev steckte es weg. Christy schwieg, und Lev versuchte, ihm von Marinas Tod zu erzählen, damit dieses Thema ihn nicht hinterrücks zu einem Zeitpunkt erwischte, wo ihm das Sprechen darüber unmöglich wäre. Als Christy fragte, woran Marina gestorben sei, versuchte Lev zu erklären, dass Leukämie in Auror und Baryn häufig vorkomme, aber keiner wisse, wieso. Einige behaupteten, das Wasser sei kontaminiert, andere, der Krebs komme davon, dass man zu wenig rotes Fleisch esse oder zu viel Rosenblütenmarmelade.
    Seine eigene Theorie war, dass Marinas Tod etwas mit dem Strommast zu tun hatte, dessen Schatten am späten Nachmittag auf sein Haus fiel. Er versuchte Christy zu erzählen, dass dieser Schatten etwas Frostiges habe, etwas frostig Graues. Und jedes Mal, wenn er sah, wie der Schatten sich über den Garten legte − über den Ziegenstall und das Hühnerhaus und den Gemüsegarten, um den Marina sich immer so hingebungsvoll gekümmert hatte −, habe ihn ein großer Zorn gepackt, und böse Vorahnungen hätten ihn gequält. Er sei dankbar, dass Auror jetzt Strom habe, hasse und fürchte den Mast aber immer noch.
    Christy starrte Lev an. Er hatte das Gesicht in die Hände gestützt, die sehr knochig waren und Brandnarben aufwiesen. Nach einer Weile sagte er: »Wieso haben Sie den Schatten gefürchtet und nicht den Mast?«
    Lev dachte darüber nach. Er versuchte zu sagen, der Schattenhabe sie berührt . Er habe eine Art Gitter über sie gelegt. Der Mast stehe etwas weiter entfernt am Hang hinter Auror, aber der Schatten falle direkt auf sie, und sie könnten nichts dagegen machen.
    Christy räumte die Teetassen ab. Der Nachmittag war jetzt vorbei, und die abendlichen Geräusche in der Belisha Road wurden allmählich lauter. Deutlich war dabei die dröhnende Musik aus der Wohnung unter ihnen herauszuhören.
    » EastEnders «, verkündete Christy. »Eine Serie. Gib gut acht, Kumpel. Lernst du ein bisschen was über die verrückte Welt, in der wir leben.«
    Christy wärmte eine Rindfleisch-Nieren-Pastete für sie auf, und sie aßen sie mit Dosenerbsen auf den Korbsesseln und sahen dabei fern, und nach dem Essen schlief Lev bei einem heftigen Wortwechsel im Fernsehen ein, der auf einem Platz, der Albert Square hieß, kein Ende nehmen wollte. Der Schlaf, in den er fiel, war tief und fest, und als er aufwachte, war der Fernseher aus und der Raum fast dunkel, und von Christy Slane war nichts zu sehen.
    Lev wanderte allein durch die Wohnung. Die Küche war sauber, die Teller vom Abendessen waren abgewaschen und weggestellt. Er ging in Christys Schlafzimmer und sah ein ungemachtes Doppelbett und einen Nachttisch, auf dem sich

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