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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Fäusten gegen die Wand, dann legte sie den Kopfan die Wand und weinte. Die zweijährige Maya begann zu schreien, und Ina musste sie auf den Arm nehmen und mit ihr nach draußen gehen, wo sie versuchte, sie mit Hühnerfüttern abzulenken.
    Lev erinnerte sich an die plötzliche Erschöpfung, die ihn in dem Moment befallen hatte, als Marina gegen die Wand zu trommeln begann. Es war, als wäre er seit dem Nachmittag im Dezernat durch Eis und Schnee marschiert, über Gletscher und Gletscherspalten, auf einer ziellosen Expedition durch Wüste und Leere, mit einer schrecklichen Last auf dem Rücken, und nun war er erledigt und fast schon tot − und alles wegen nichts, nur weil er versucht hatte, die eine Frau in der Welt, die ihn glücklich machte, zu verletzen.
    Er ging zu Marina und nahm ihre Hände und hielt sie zur Beruhigung an seine Brust. Er legte den Kopf auf ihre Schulter. Er bat sie um Verzeihung.
    Als die Temperatur in London noch weiter gefallen war und die Kneipengänger von Tufnell Park sich von den Gehsteigen in gemütliche Gaststätten und geheizte Billardzimmer zurückgezogen hatten, erhielt Lev einen Brief von Lydia:
    Lieber Lev,
ich hoffe, Sie kommen gut zurecht mit Ihrer Arbeit und Ihr Zimmer ist nett.
Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich bedauere, was bei Tom und Larissa passiert ist. Ich war an dem Abend etwas betrunken und habe mich wie ein Schulmädchen benommen − was vielleicht alle Frauen hin und wieder tun. Ich bin sicher, Sie sind ein freundlicher Mensch und können mir verzeihen.
Als Wiedergutmachung würde ich Sie gern zu einem ganz besonderen Konzert einladen, das Maestro Greszler in zwei Wochen mit dem London Philharmonic Orchestra gibt, und zwar am 30. Oktober in der Festival Hall. Das Programmumfasst Elgar und Rachmaninow. Maestro Greszler hat mir Karten für zwei sehr gute Plätze geschenkt, und der Solist des Cellokonzerts von Elgar ist das russische Genie Mstislaw Rostropowitsch. Ich glaube, es wird ein ganz außerordentliches Ereignis sein. Rostropowitsch ist alt und tritt nur noch selten auf, aber er ist genial wie eh und je. Ich hoffe sehr, dass Sie an diesem Abend mein Gast sein werden.
    Mit herzlichen Grüßen
Lydia
    Levs erster Gedanke war, dass Lydia immer gut für eine Überraschung war. Auf der Busreise war sie ihm als eine Frau ohne besondere Talente erschienen. Aber er hatte sich geirrt. Sein nächster Gedanke war, dass es nun noch jemanden gab, den er mit seinem Mobiltelefon anrufen konnte. Erst einmal tippte er Lydias Nummer in seinen Speicher (so dass sie alphabetisch zwischen Damians Handynummer und Rudis Festnetznummer vom Telefon neben der Kuckucksuhr geriet), dann wählte er sie.
    »Ich bin’s, Lev«, sagte er. »Ich habe jetzt ein Handy.«
    »Ach ja?«, sagte Lydia. »Das ist sehr technologisch von Ihnen.«
    »Ich bin ein ›echter Bürger Londons‹, hat man mir gesagt.«
    »Das sind Sie auch. Und vielen Dank, dass Sie mich anrufen auf diesem herrlichen neuen Telefon. Hoffentlich, um mir zu sagen, dass Sie zum Konzert kommen können.«
    Lev rauchte gerade eine von Christys Silk Cut. Er nahm einen tiefen Zug und sagte dann: »Ich war noch nie in so einem Konzert, Lydia, nur zu Volksmusikaufführungen in Baryn.«
    »Das ist ziemlich weit weg von Volksmusik«, sagte Lydia, »aber ich glaube, es wird Ihnen gefallen.«
    »Die andere Sache«, sagte Lev, »ist, dass ich nicht kommen kann, weil ich nichts zum Anziehen habe.«
    Für einen Moment herrschte niedergeschlagenes Schweigen,dann sagte Lydia: »Lev, das macht wirklich nichts. Ziehen Sie doch einfach eine Krawatte an.«
    »Ich weiß nicht ...«
    »Bitte«, sagte Lydia. »Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Zu hören, wie Maestro Greszler Elgar dirigiert und Rostropowitsch spielt ...«
    »Wer ist Elgar?«, sagte Lev.
    »Ach, das wissen Sie nicht? Einer der wenigen guten englischen Komponisten. Dieses Stück hat er im Herbst seines Lebens geschrieben, und der langsame Satz ist sehr berühmt und traurig. Er kann einen zum Weinen bringen. Bitte sagen Sie, Sie werden kommen und weinen.«
    Als Lev sich schließlich einverstanden erklärte, hörte er Lydia ein kleines, entzücktes Miaugeräusch ausstoßen. Sie riet ihm, den Termin in seinen Kalender einzutragen, und er versprach es. Er sagte ihr weder, dass er gar keinen Kalender besaß, noch, dass all seine Tage und Nächte einander in ihrem immer gleichen Ablauf ähnelten.
    An einem Samstag ging Christy mit Lev zur Holloway Road, wo irische Freunde von Christy einen

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