Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
er bloß bei sich behalten könnte, was er getrunken hat.‹«
    »Es ist okay«, sagte Lev. »Es ist okay.«
    Er ließ Christy, der sich den Hals mit einem Waschlappen abseifte, allein und machte sich daran, das Erbrochene auf dem Treppenabsatz aufzuwischen. Obwohl es schlecht roch, konnte Lev es aushalten. Als Marina krank wurde, hatte sie sich häufig erbrochen, und er hatte sich einfach daran gewöhnt. Es war ein Teil von ihr, hatte er sich gesagt. Es war der ganz normale menschliche Schlamassel. Es war der Beweis dafür, dass Marina noch am Leben war.
    Der kalte Herbst kam ohne Vorwarnung.
    Als Lev eines Nachmittags zur Arbeit aufbrach, waren die Fensterscheiben der Belisha Road Nr. 12 noch ziemlich warm von der Sonne; als er in die Clerkenwell-Nacht hinaustrat, hatten alle Kneipen und Bars ihre Türen geschlossen, und ein eisiger Wind pfiff durch die verlassenen Straßen. Lev machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Als Regen einsetzte, schlug er den Kragen seiner Lederjacke hoch. Das kreiselnde gelbe Licht einer Straßenkehrmaschine erhellte eine plötzlich unvertraute Stadt.
    Während Lev auf einer schiefen Bank, nicht breiter als ein Brett, auf seinen Nachtbus wartete, musste er daran denken, wie er sich damals, als Marina noch in der Buchhaltung des BarynerBaudezernats arbeitete, vorgestellt hatte, sie sei die Hüterin seiner Welt, und wie er darauf vertraut hatte, dass seine Frau, egal was für Veränderungen anstehen mochten, eine der Ersten sein würde, die davon wüssten. Selbst für Wetterumschwünge galt das. Das Baudezernat hatte in etwas investiert, das der Prokurator eine »Vorrichtung zur verlässlichen Wettervorhersage« nannte. Marina wusste zum Beispiel immer, wann es schneien würde. Ihre Abteilung sorgte dann dafür, dass die uralten Schneepflüge frisch geschmiert und die pensionierten Fahrer dieser Maschinen angerufen und von zu Hause abgeholt wurden, um dann im Baryner Maschinendepot unter trostlosen Umständen auf Abruf zu warten. Denn ihr einziger Komfort bestand in einem altertümlichen, an die Wand geschraubten Samowar und nie gereinigten rostigen Urinalen in einer Ecke.
    »Diese alten Männer müssen die Urinale sehr oft benutzen«, sagte Marina häufig. »Ich fürchte, sie holen sich noch eine Infektion.«
    Levs Bus kam, und er stieg ein und war froh über das bisschen Wärme drinnen und das zitronenfarbene Licht in der Dunkelheit. Er wünschte, jemand hätte ihn vorher auf den plötzlichen Wechsel der englischen Jahreszeiten aufmerksam gemacht. Er hatte sich so sehr an das schöne Wetter gewöhnt, dass er innerlich nicht auf einen kalten Herbst eingestellt war. Und jetzt sah er den langen Tunnel des Winters vor sich, die dunklen Nachmittage, die alte nächtliche Traurigkeit, die einen packte, wenn man hörte, wie der Wind die Bäume quälte.
    Lev schloss die Augen. Sein Rücken schmerzte von der langen Schicht an den Spülbecken. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und umklammerte das kostbare Geld, das darin verborgen war. Erinnerungen an Marinas Büro im Baudezernat überfielen ihn jetzt. Er wusste noch, wie staubig es roch und wie die schwere Tür beim Öffnen und Schließen klang, und er sah noch Marinas Namensschild auf ihrem Schreibtisch vor sich.
    Es war Winter, als Marina und er ihre einzige schlimme Auseinandersetzung hatten. Schon damals war Lev klar gewesen, dass die abscheuliche Art und Weise, wie er seine Frau behandelte, etwas mit der kalten Jahreszeit zu tun hatte, mit der Lichtlosigkeit, mit dem zu dünnen Blut in seinen Adern. Die ganze dunkle Zeit hindurch hatte er sich gehasst − sein Geschimpfe, sein verhärtetes Herz −, doch dieser Hass änderte nichts an dem, was er fühlte und was er tat. Die ganze dunkle Zeit hindurch war ihm klar gewesen, dass er sich wahrscheinlich irrte, aber er konnte nichts zurücknehmen, konnte nicht aufhören, das zu glauben, was ganz plötzlich, innerhalb eines einzigen Tages, zu seiner verblendeten Überzeugung geworden war.
    Er hatte Marina bezichtigt, ihm untreu zu sein. Er glaubte, ihr Liebhaber sei ihr Chef, der Prokurator höchstpersönlich, der fünfzigjährige Herr Rivas, einst als Genosse Rivas bekannt.
    Begonnen hatte alles an einem kalten Freitagnachmittag, als die Arbeit in der Baryner Sägemühle früh zu Ende war. Lev war zu Fuß durch die eisige Stadt zu Marinas Büro gegangen. Er betrat das Baudezernat durch den Haupteingang und hinterließ Matsch und Sägespäne auf dem Linoleumboden im

Weitere Kostenlose Bücher