Der weite Weg nach Hause
Empfangsbereich, und die hässliche, feuerspeiende Empfangsdame stellte sich ihm in den Weg und befahl ihm grob, seine Schuhe auszuziehen.
Er folgte der Anweisung. In Baryn gehorchte man Beamten, ohne ihre Autorität infrage zu stellen. Aber Levs Socken waren feucht und hatten Löcher an den Fersen. Während er, seine verdreckten Schuhe in der Hand, die Treppe hochstieg, fühlte er sich arm und gedemütigt. Er ging den Flur entlang und erreichte Marinas Büro. Ohne anzuklopfen, öffnete er ihre Tür.
Sie saß an ihrem Schreibtisch und las in irgendwelchen Unterlagen. Der Prokurator in seinem modischen Anzug stand hinter ihr und las ebenfalls − oder tat jedenfalls so − das Dokument auf ihrem Schreibtisch und hatte dabei den Arm um Marinas Schultern gelegt.
Lev starrte auf das Bild. Kamerad Rivas fuhr zusammen, nahm seinen Arm weg und richtete sich auf. Marina stieß einen kleinen, erstickten Laut aus, der in Levs Ohren nach Schuld klang. Sein Blick wanderte vom einen zur anderen. Niemand sprach, bis Marina sagte: »Herr Rivas und ich sind gerade ein paar Kalkulationen des Regionalbüros für Heizung und Licht durchgegangen.«
Rivas sah auf seine Uhr. »Tja, für einen Freitag ist es tatsächlich schon spät«, sagte er. »Begleiten Sie doch bitte Ihre Frau nach Hause.« Dann ging er, klack-klack, klack-klack , in seinen blitzblanken Schuhen, ohne sich nach Marina umzuschauen, an Lev vorbei in sein eigenes Büro und schloss die Tür.
Lev setzte sich in einen Ledersessel. Er stellte seine schmutzigen Arbeitsstiefel auf den Boden. Er ließ Marina nicht aus den Augen. Sie begann, die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu ordnen, und blickte ihn nicht an. Er konnte sehen, dass ihr Gesicht rot war und die Röte ihren Hals hinuntergekrochen war, und er stellte sich vor, wie sie sich unter ihrer adretten weißen Bluse in dem Spalt zwischen ihren Brüsten ausbreitete. »Was habe ich da gerade gesehen?«, fragte er.
Marina fuhr fort, die Papiere zu ordnen. »Du hast gar nichts gesehen«, sagte sie. »Lass uns nach Hause gehen.« Sie nahm ihren Mantel vom Haken, schlang sich einen Wollschal um den Hals, glättete ihr Haar.
»O ja«, sagte Lev, »das würde ich an deiner Stelle auch tun, das Haar überprüfen, wo seine Hände gewesen sind. Auch den Lippenstift. Oder ist da gar kein Lippenstift mehr auf deinem Mund?«
»Es ist nicht so, wie du denkst, Lev«, sagte sie. »Der Prokurator benimmt sich allen seinen Angestellten gegenüber so betont herzlich, weil er glaubt, solch menschenfreundliches Verhalten sei produktiver als ...«
»Produktiver wofür?«
»Produktiver als altmodische hierarchische Strenge und ...«
»Ich sagte, produktiver wofür ?«
»Bitte schrei nicht in diesem Büro. Für den Zusammenhalt. Dafür, dass alle gut zusammenarbeiten ...«
»Und was noch zusammen machen?«
Marina antwortete nicht. Sie zog ein Kopftuch aus ihrer Manteltasche und band es sich um. Beim Anblick ihres süßen Gesichts unter dem Kopftuch stockte ihm das Herz. »Ich hasse dich«, sagte er. »Du hast gerade mein Leben zerstört.«
Durch die wachsende Dunkelheit radelten sie nach Hause. Lev fuhr vor Marina her, weil er ihren Anblick nicht ertragen konnte, doch er sah die ganze Zeit, wie das schwache Flackern ihrer Fahrradlampe ihm folgte.
Es war Januar oder Februar, tiefstes Winterloch, und Lev dachte, für ihn werde dieser Winter nun ewig dauern, und selbst wenn der Frühling wiederkehrte, dann nicht für ihn.
Jetzt im Nachtbus musste Lev daran denken, auf wie vielerlei Weisen er Marina für ihre vermutete Liebesaffäre mit Prokurator Rivas bestraft hatte. Er zog aus dem Ehebett aus und legte sich auf den Boden vor das Zimmer, in dem Ina und die kleine Maya schliefen. Er blieb ganze Nächte lang weg, betrank sich mit Rudi und war am nächsten Morgen nicht in der Lage, zur Arbeit zu gehen. Sein Arbeitsplatz war in Gefahr. Er beachtete sein Kind nicht. Er schikanierte seine Mutter. Zu Marinas Geburtstag wickelte er ein Stück Kohle ein und legte es ihr in die treulosen Hände.
Und als sie dieses Stück Kohle auswickelte, brach sie zusammen.
Sie schwor beim Leben ihres Kindes, dass sie nie auch nur in der Nähe des Betts von Prokurator Rivas gewesen sei. Sie bot an, ihre Stellung im Baudezernat aufzugeben. Sie erklärte, niemand in Baryn, keine Frau auf der ganzen Welt liebe ihren Mann mehr, als sie Lev liebe, und jetzt werde diese Liebe vergiftet − aufgrund eines schrecklichen Missverständnisses. Sie trommelte mit den
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