Der weite Weg nach Hause
ließ ihn nicht los.
Lydia ging so schnell, dass sie bald beide außer Atem waren. Lev fühlte, wie seine Raucherlunge sich zu beschweren begann, aber Lydia hastete weiter. »Großer Gott!«, rief sie, als sie in die Wartehalle stürmten. »Der menschliche Körper. So erhaben und doch so schwach.«
Während sie auf die Apotheke zuliefen, holte Lydia schon Geld aus ihrem Portemonnaie. Sie befahl Lev, vor der Tür zu warten, und betrat den Laden.
Nun wartete Lev erneut auf Lydia, wieder an demselben schlichten Tisch an der Bar, wo sie den Abend begonnen hatten. Nach dem Sprint zur Waterloo Station und zurück war er froh, sitzen zu können. Im Foyer läutete wiederholt eine Glocke. Es warennoch drei Minuten bis zum Beginn des Konzerts. Lev sah zu, wie die Menschen um ihn herum ihre Gläser austranken und langsam in dem Saal verschwanden. Er fragte sich, ob es überhaupt noch ein Konzert geben oder ob irgendein sehr ernster Mensch aus dem Management (von der Sorte, mit der Marina im Baudezernat zusammengearbeitet hatte) auf die Bühne treten und den gesamten Abend absagen würde.
Beim dritten oder vierten Läuten der Glocke sah Lev, dass er sich allein im Barbereich befand und das hallende Foyer sich bis auf wenige Personen, die weiter hinten um ein paar ausgestellte Fotos herumschlenderten, geleert hatte.
Es war still geworden, und Lev dachte, nicht ohne Verwunderung, dass die nächsten Minuten der Musikgeschichte womöglich von Lydia abhingen.
Und jetzt sah er sie herbeieilen. Gerührt bemerkte er, dass ihre anfängliche Eleganz nach all der Hetzerei durch den feuchten Abend leicht derangiert wirkte. Auf ihrer Stirn stand Schweiß, und ihr modisch frisiertes Haar hatte sich zu eigenwilligen Löckchen gekräuselt. »Lev«, keuchte sie. »Es tut mir so leid. Dass ich Sie in all das hineingezogen habe. Lassen Sie mich kurz verschnaufen, und dann gehen wir hinein.«
Lydia setzte sich. Sie wischte sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht. Sie kämmte sich das Haar. Sie bat Lev, ihr etwas Wasser von der Bar zu besorgen. Sie sagte, das Konzert werde spät beginnen, weshalb sie genügend Zeit habe, noch etwas zu trinken.
Lev brachte das Wasser und setzte sich wieder.
Lydia schüttete es hinunter. »Mein Gott«, sagte sie. »Mein Gott. Hoffentlich erholt er sich wieder. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas besorgen müsste.«
»Was ist mit ihm?«, fragte Lev.
»Also ...«, sagte Lydia flüsternd. »Ich erzähle es Ihnen. Maestro Greszler meinte, er könne Elgars Cellokonzert nicht dirigieren mit so viel Gift im Körper. Er habe versucht, das Gift auszuscheiden,aber es sei ihm nicht gelungen. Er sagte, er müsse absolut gereinigt sein, bevor er die Bühne betrete. Ich musste ihm Zäpfchen besorgen, damit er sich entleeren konnte. Es war ihm peinlich, einen Engländer um Hilfe zu bitten. Er hat das Gefühl, als Volk seien wir den Engländern ein Rätsel: ein Rätsel und ein Horror. Ich hoffe jetzt nur, dass die Zäpfchen gewirkt haben!«
Lev lächelte. Er nahm Lydias Hand und hielt sie einen Moment lang fest. Er fand sie kühn und ertappte sich plötzlich bei dem Wunsch − um ihret- wie um seinetwillen −, sie wäre hübscher, als sie war.
Die Hand noch in seiner, schaute sie ihn mit ihren großen Augen ruhig an. Dann senkte sie den Blick. »Was ich gesagt habe, stimmt«, erklärte sie. »Das ist eine besonders hübsche Krawatte, Lev.«
Drinnen im Konzertsaal bestaunte Lev ehrfürchtig den großen Raum und das Orchester, das auf der hell erleuchteten Bühne seine Instrumente stimmte, spürte die atemlose Spannung. Lydia führte ihn eilig zu ihren Plätzen, und er nahm den Geruch der Busreise an ihr wahr, diese Mischung aus Parfüm und Deodorant und Schweiß, und es kam ihm beinah unglaublich vor, dass sie jetzt Seite an Seite in diesem berühmten Saal saßen.
Minuten vergingen. Das Orchester wartete. Das Publikum verstummte. In einigen Ecken des Saals wurde gehustet. Lydias Atem war immer noch beschleunigt. Auf ihrer grünen Bluse war ein winziger Tomatensaftfleck, der Lev bislang noch nicht aufgefallen war. Er spürte ihre tiefe Besorgnis.
Um sie zu beruhigen, um ihr durch diese quälenden Minuten zu helfen, sagte er leise: »Erzählen Sie mir mehr über Elgar.«
»Na ja«, sagte Lydia, »was soll ich Ihnen erzählen. In diesem Konzert werden Sie eine große Nostalgie vernehmen, eine große Sehnsucht nach einer Zeit oder einem Ort, die verloren sind,oder vielleicht ist es auch die Sehnsucht
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