Der weite Weg nach Hause
Geschäft von Elgars Vater wie das am Marktplatz, weil Elgar später häufig sagte, er schäme sich seiner Herkunft.«
»Ich hätte gedacht, ein Musikgeschäft ist ein guter Ort für den Anfang, wenn man ein Komponist werden will«, sagte Lev. »Wieso sollte er sich schämen?«
»Sie haben sicher recht, Lev«, sagte Lydia. »Aber das war natürlich sehr englisch von Elgar: Er machte seinen Weg, und dann schämte er sich seiner bescheidenen Vergangenheit, weil alle um ihn herum ihm das Gefühl vermittelten , er müsse sich schämen. Genau wie es heute in unserem Land Scham unter den alten Kommunisten gibt, weil man sie dazu bringt, sich zu schämen. Der Kommunismus war nicht ihr Fehler, so wie es nicht Elgars Fehler war, in einem Musikgeschäft geboren zu sein. Begreifen Sie meinen Vergleich?«
»Ja«, sagte Lev. »Ich glaube, schon.«
»Aber Elgar konnte seine armseligen Anfänge mit den staubigen Geigen und so weiter hinter sich lassen. Er schrieb sehr, sehr schöne Melodien, und seine Orchestrierung ist absolut erlesen. Sie werden es hören, Lev. Sie ist vollkommen. Als Junge hat er häufig mit einem Blatt Papier am Fluss gesessen − irgendwo in der Nähe der Stadt mit dem Musikgeschäft − und hat der Natur zugehört. Er wollte, wie er es nannte, ›die Geräusche festhalten‹. Und er sagte, das, was er höre, wecke in ihm eine Sehnsucht nach etwas Großem. Und schließlich sollte dieses Große ...«
Lydia wurde durch das Erscheinen eines jungen Mannes unterbrochen, eines der Angestellten der Festival Hall mit dem Namenschild »Darren«. Er beugte sich zu ihr hinunter. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, Lydia«, sagte er, »aber Maestro Greszler möchte Sie gern sprechen.«
»Oh«, sagte Lydia. »Ja, natürlich. Darf ich meinen Gast mitbringen, um ihn vorzustellen?«
Der Angestellte, Darren, sah erst Lev, dann Lydia an. »Ja«, sagte er. »Ich denke schon. Folgen Sie mir bitte.«
Lydia stand auf. »Kommen Sie mit, Lev«, sagte sie, »und wir schauen mal, ob ich Sie vorstellen kann.«
»Es ist in Ordnung«, sagte Lev. »Ich kann hier warten.«
»Nein, nein.« Lydia blieb beharrlich. »Kommen Sie. Dann können Sie nach Hause schreiben und Ihrer Mutter erzählen, dass Sie Pjotr Greszler leibhaftig gegenüberstanden.«
Sie wurden in eine große, hell erleuchtete Künstlergarderobe geführt, wo Pjotr Greszler allein in einem wollenen Morgenmantel saß.
Er war siebzig Jahre alt. Sein Körper hing schlaff in dem verchromten Ledersessel. Er nippte missmutig an einem Glas mit einer weißen Flüssigkeit. Sein langes Haar war ebenfalls weiß, und der große weiße Schnurrbart machte sein faltiges Gesicht zu einem Bild absoluter Melancholie. Als er Lev erblickte, setzte er das Glas mit seiner Medizin heftig ab und wedelte in einer wegwischenden Geste schlechtgelaunt mit dem Arm. »Nein, Lydia. Keine Fremden hier drin. Wer ist das?«
»Entschuldigen Sie, Maestro«, sagte Lydia. »Nur mein Freund Lev aus unserem Land, der gerne vorgestellt werden würde ...«
»Nein, er kann jetzt nicht vorgestellt werden. Er soll gehen«, sagte Greszler. »Gehen Sie. Gehen Sie! «
»Ich gehe schon«, sagte Lev zurückweichend.
»Komm her, Lydia«, sagte der Maestro verärgert. »Du musst mir helfen. Wir haben nicht viel Zeit ...«
Lev zog sich eilig zurück und schloss die Garderobentür. Darren war verschwunden. Im Flur hörte Lev überall Musiker üben. Ihm war heiß vor Verlegenheit. Er wünschte, Rudi wäre da und würde sich über das, was eben passiert war, lustig machen.Er lockerte seine Krawatte, um seinen schwitzenden Hals zu befreien.
Nur wenig später kam Lydia aus dem Zimmer. Sie machte ein sehr besorgtes Gesicht. »Kommen Sie, Lev«, sagte sie und marschierte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Dann strebte sie zum nächsten Ausgang und zog Lev in den kalten Abend hinaus.
»Was ist los?«, fragte er.
»Apotheke«, sagte Lydia. »Die nächste ist in Waterloo Station.«
Sie begann fast zu rennen. »Ich bete nur, dass sie offen ist«, sagte sie. »Wir müssen sehr schnell gehen. Los, kommen Sie.« Das eilige Klack-Klack ihrer Pumps klang besorgt.
»Was ist mit dem Maestro?«, fragte Lev und versuchte, mit Lydia Schritt zu halten.
»Das erzähle ich Ihnen später«, sagte Lydia. »Zum Glück kenne ich den kürzesten Weg.«
Lev sah auf seine Uhr. Das Konzert sollte in fünfunddreißig Minuten beginnen. Das Bild von Pjotr Greszler, wie er in seinem Sessel hing und an der weißen Medizin nippte,
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