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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Marktstand betrieben, an dem Lev ein weißes Baumwollhemd und eine Krawatte in der Farbe von Waldos Crème-brûlée - Kruste kaufte. Er breitete beides auf seinem Etagenbett aus. Er brachte seine beste graue Hose in die griechische Reinigung. Er putzte seine braunen Schuhe.
    »Ich stelle fest, dass du dir eine Menge Mühe für Lydia gibst«, sagte Christy.
    »Nein«, sagte Lev, »ich gebe Mühe, bei Konzert gut auszusehen.«
    »Na ja«, sagte Christy, »Musik ist schon was, wofür man sich Mühe geben kann. Als ich klein war, hat mein Paps gern Fiedel gespielt. Wir hatten einen Nachbarn, Stan Lafferty hieß er, der war mindestens neunzig, aber Stan und mein Paps haben samstagsabends in der Kneipe zusammen Musik gemacht, und meine Mama und ich saßen in unserer Samstagskleidung da und schnipsten mit unseren blöden Fingern und stampften mit unseren blöden Füßen. Das waren die einzigen Male, wo ich meine Mama halbwegs glücklich gesehen hab. Die Tanzmusik hat sie einfach mitgerissen. Auf ihrem Gesicht erschien dann ein Grinsen und ein Strahlen ... Ich glaube, dieses Konzert wird dich aufmuntern, Lev.«
    »Ja?«
    »Ja, das glaube ich. Vielleicht findest du Lydia dann ja sogar netter als vorher.«
    »Nein«, sagte Lev. »Ich weiß, was ist Lydia für mich.«
    »Klar«, sagte Christy, »aber das kann sich ändern. Solche Sachen sind nie das, was man als stabil bezeichnen würde.«
    Lev überquerte jetzt die Hungerford Bridge. Ein eisiger Wind wehte vom Fluss herauf, trotzdem blieb er in der Mitte der Brücke stehen und starrte auf all die elektrischen Lichter, in denen die Gebäude am prächtigen Themseufer erstrahlten. Aus Angst, zu spät zu kommen, war Lev viel zu früh für sein Rendezvous mit Lydia, deshalb machte er auf der Brücke eine kleine Pause.
    Er drehte sich eine Zigarette und rauchte sie auf entspannte, selbstvergessene Weise, ohne den Blick von dem funkelnden Panorama des Flussufers zu wenden. Dass das unaufhörlich strahlende Licht nur dazu da war, die Gebäude, auf die es fiel, zu verschönern, beeindruckte und beunruhigte ihn gleichermaßen. Er musste daran denken, wie kostbar in seinem Land jede Stunde Strom war und dass Menschen wie seine Mutter sich nach Licht sehnten, das nie ausging. In den Jahren nach dem Sturz der kommunistischen Regierung war ihnen immer wieder die verlässliche Versorgung mit Licht versprochen worden, aber trotzdem kam es weiter zu Stromausfällen in Auror. Manchmal blickte Ina in der Dunkelheit zum Strommast hoch und fluchteund sagte: »Seht euch das an! Die transportieren den Strom direkt über unseren Köpfen. Und wir gehen leer aus. Niemand schert sich um die Dörfer.«
    Lev drückte die Zigarette aus. Er war nervös. Er fragte sich, wie lange das Konzert wohl dauern würde und ob er die ganze Zeit würde stillhalten können. Hoffentlich schlief er nicht ein oder fing an zu husten. Er konnte sich alle möglichen Vorwürfe in Lydias Augen vorstellen.
    Lydia erwartete ihn in der Nähe der Bar; sie saß allein an einem Tisch mit einem Glas Tomatensaft vor sich. Lev bemerkte ihren modischen Haarschnitt. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einer grünen Bluse.
    Als sie Lev erblickte, stand sie auf, und sie schüttelten einander die Hand.
    »Lev«, sagte sie. »Was für eine besonders hübsche Krawatte.«
    Es war immer noch früh, und in dem beeindruckend prunkvollen Foyer befanden sich nur wenige Menschen, trotzdem konnte Lev eine erwartungsvolle Spannung spüren, als sei das Publikum hier, um sich innerlich reinigen oder ein zweites Mal taufen zu lassen.
    Lydia hielt das Programm in der Hand und sagte: »So, Lev, ich werde Ihnen jetzt etwas über Elgar erzählen.«
    Lev setzte sich. Er wünschte, er trüge eine bessere Jacke als seine alte lederne mit dem speckigen Kragen. Mit leuchtenden Augen sagte Lydia: »Dieser Mann hieß Sir Edward Elgar und war sehr wichtig für die englische Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber er war wie wir: Seine Anfänge waren ganz bescheiden. Sein Vater besaß ein kleines Musikgeschäft irgendwo in der Provinz.«
    »Ein Musikgeschäft?«
    »Einen kleinen Laden, in dem Instrumente und Noten verkauft werden. Es gibt einen in Baryn am Ende einer alten Passage hinter dem Marktplatz. Vielleicht kennen Sie den ja?«
    »Nein«, sagte Lev.
    »Der in Baryn ist sehr verstaubt«, fuhr Lydia fort, »und hat nur gebrauchte Flöten und Geigen und so weiter, und einige der Noten sind zerrissen, oder es fehlen Seiten. Und vielleicht war das

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