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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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nach einem vollkommenen Ort, der niemals zu finden sein wird. Ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass er gesagt haben soll, er liebe nur eine Sache auf der Welt, und das sei ein Fluss irgendwo im Westen Englands. Wahrscheinlich der Fluss, an dem er als Kind war und wo er ›Geräusche festhalten‹ wollte. Ich weiß es nicht.«
    »Haben Sie ›Nostalgie‹ für unser Land, Lydia?«
    »Was? Sie meinen, ob ich Heimweh habe?«
    »Ich meine, ob Sie glauben, dass Ihre Entscheidung, hierherzukommen, richtig war.«
    »Ja«, sagte sie mit Nachdruck. »In Yarbl gab es nichts mehr für mich. Nur meine Eltern, die sich in ihrem Alter eingerichtet haben. Hier fange ich neu an. Ich will leben.«
    Endlich entstand Bewegung auf der linken Bühnenseite, und da erschien er, Pjotr Greszler, die berühmteste Persönlichkeit, die ihr Land in den letzten fünfzig Jahren hervorgebracht hatte; aufrecht und elegant in seinem Frack, schritt er durch das Orchester, das Haar ordentlich gebürstet und auf dem vormals melancholischen Gesicht der Anflug eines Lächelns. Er bewegte sich festen Schritts, sprang fast auf das Podest und hob die Arme, um den Applaus, der ihn empfing, anzunehmen. Lydia begann, wild zu klatschen. Sie wandte sich um, lächelte Lev an und sagte: »Er hat wieder Farbe. Ich glaube, die Zäpfchen haben gewirkt. Ich bin so froh.«
    Maestro Greszler blickte jetzt zur Tür, aus der er gekommen war. Erneut hob er die Arme in einer Willkommensgeste, als Rostropowitsch langsam und vorsichtig auf den Solistenstuhl zuschritt.
    Der Applaus wurde leidenschaftlicher. Ein oder zwei Personen erhoben sich. Der alte Rostropowitsch neigte den Kopf. Lichter funkelten und blitzen auf seinen Brillengläsern. Lev spürte, wie hingerissen Lydia neben ihm war. Nun würde in wenigen Minuten die herrliche Musik beginnen.
    Nach und nach verstummte das Publikum. Rostropowitschsetzte sich an seinem Instrument zurecht. Greszler wartete, den Taktstock in der Hand. Die Musiker saßen still, aber aufmerksam auf ihren Stühlen und beobachteten Greszler. Lev hatte noch nie eine Stille erlebt, die so erwartungsvoll angespannt war. Und sie dauerte. Der große Cellist war schon sehr alt: Er brauchte seine Zeit. Auf dem Podest hielt Greszler die Ellbogen ausgestreckt und wartete immer noch auf den Moment, da der Taktstock seinen Flug beginnen würde.
    Und in diesem gespannten Schweigen vernahm Lev plötzlich ein unerwartetes, aber vertrautes Geräusch. Es schien in seiner unmittelbaren Nähe zu sein. Und er merkte, wie Menschen sich nach ihm umdrehten und ihn anstarrten, und der Mann neben ihm stieß ihm heftig in den Arm. Dann begriff er: Sein Handy klingelte! Der neueste Klingelton, den Lev ausgesucht hatte, hieß »Karussell«, und er hatte ihn wegen seiner herzergreifenden Ähnlichkeit mit Baryner Jahrmarktsmusik gewählt, und jetzt, in diesem verhängnisvollen Augenblick vor Beginn von Elgars Cellokonzert, erklang seine vergnügte Melodie.
    Lydia hielt sich die Hand vor den Mund, als könnte diese Geste das hartnäckige Klingen beenden. »Mach es aus!«, zischte sie.
    Lev versuchte, es zu finden. Seine Jacke hatte viele Taschen. Der »Karussell«-Klingelton war so programmiert, dass er nach dem dritten Klingeln lauter wurde. Levs Hände wühlten vergeblich. Auf dem Podest hatte Greszler sich wütend zum Publikum umgedreht. Er machte eine verzweifelte Geste. »Handys ausschalten!«, brüllte er. »Bitte, bitte ! Keine Barbaren hier drinnen!« Und hundert empörte Gesichter aus dem Orchester blickten in Levs Richtung. Der fuhr mit den Händen in eine Tasche nach der anderen. Er fand Geld, Kamm, Zigaretten, aber kein Handy. Schweiß lief ihm den Nacken hinunter. Lydia knurrte verzweifelt seinen Namen: »Lev, Lev, Lev !«
    Das Handy war nicht in Levs Jacke. Die lustige »Karussell«-Melodieerklang unbekümmert weiter. Lev bückte sich mit brennendem Gesicht und tastete unter seinem Sitz herum. Noch während er sich sagte, dass er das Handy dort nicht finden würde, dass es nicht aus seiner Tasche hatte hüpfen können, verstummte das Klingeln. Langsam richtete er sich auf. Er zitterte. Er sah, dass Greszler immer noch wütend das Publikum anfunkelte. Er wusste, dass der Zauber, der noch Sekunden vorher den Saal in Bann gehalten hatte, unwiederbringlich gebrochen war − gebrochen durch ihn. Schlimmer noch, er hatte sein Handy immer noch nicht gefunden. Es könnte wieder klingeln. Und dann würde bestimmt das laute Piep-Piep-Signal für »unbeantworteter

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