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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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machen.«
    Er ließ sich führen und rauchte die ganze Zeit. Die Sonne kam und ging, und die Wolken über London wurden dunkel. Die Geräusche der Tennisspieler wurden schwächer. Sie kamen an einem Teich vorbei, auf dem einige Entenpärchen schwammen. Lev warf seine Zigarette ins Wasser und begann, schneller zu gehen, so dass Lydia laufen musste, um mit ihm Schritt zuhalten. Er überlegte, ob sie sein Herzklopfen hören konnte, während er vorwärts stürmte. Doch eigentlich war es ihm egal. Es war sein Herz. Sein Blut pochte in seinen Ohren. Er war ein Mann, und er wusste, dass er an diesem Sonntag im Dezember beschlossen hatte, wieder lebendig zu werden. Er wollte losrennen − jetzt, in diesem Augenblick, ohne zu zögern −, und zwar dorthin, wo sie wohnte. Er kannte ihre Adresse seit Wochen auswendig, hatte sie in Damians Angestelltenliste nachgesehen, da er wusste, er würde sie eines Tages brauchen. Er brauchte sie jetzt. Er war ein Mann, und sie hatte ihn geküsst, und jetzt wurde es Zeit ...
    »Lev ...«, sagte Lydia weinerlich, während sie ihn hastig einholte, »gehen Sie nicht so schnell.«
    Also musste er langsamer werden. Er musste sich dazu zwingen, zu warten, sich Lydia zuzuwenden. Er konnte sie nicht schon wieder ohne Erklärung, ohne Vorwarnung sitzen lassen. Er bot ihr wieder seinen Arm. Er spürte, wie ihre kleine Hand seinen Ärmel packte. Sie begann, über eine Skulptur auf einem Betonsockel zu reden, die einem verdrehten menschlichen Torso glich. Sie sagte, sie bewundere ihre »beunruhigende Befremdlichkeit«. Sie sehne sich danach, sagte sie, etwas zu erschaffen , einen Teil von sich selbst in einer eigenständigen Schöpfung verkörpert zu sehen, die sie überdauern würde. Denn sie begreife jetzt, wie das Leben sich beschleunige. Besonders in London. »Zu Hause«, sagte sie, »war ein Tag wie der andere, und wir hatten keine Hoffnung auf Veränderung, deshalb schritt die Zeit nur sehr langsam voran. Aber, mein Gott, hier fühle ich, wie sie rast. Sie nicht auch, Lev?«
    Lev nickte. Ja, sie raste. Heute tat sie das. Sie zog ihn gerade weit, weit fort von dort, wo er war. Aber was von alledem konnte er Lydia vermitteln? Ihre Hand lag bequem in seiner Armbeuge. Sie hatte ihm ein Weihnachtsgeschenk besorgt. Beide spazierten sie, wie ein vertrautes Paar, durch den Waterlow Park. Die roten Stoffknäuel in den Stechpalmen wehten im Wind. Die Entenpärchen quakten.»Also«, sagte Lydia, als sie den dampfenden Kaffee tranken, »ich beschreibe Ihnen mal meine Situation. Wahrscheinlich leben viele junge Frauen aus unserem Land als Au-pair in London, aber ich verrate Ihnen jetzt, für mich ist das nicht gut.«
    »Nein?«
    »Nein. Ganz und gar nicht. Vielleicht bin ich nicht jung genug. Für mich sind englische Kinder zu undiszipliniert, zu verwöhnt. Sie haben alles, was man sich denken kann, aber sie behandeln alles gleich: nehmen es und werfen es weg. Nehmen Menschen und werfen sie weg. Hugo und Jemima heißen sie. Sie nennen mich ›Müsli‹.«
    »Müsli?«
    »Sie finden es komisch. Wegen meines Gesichts, der Leberflecken. Müsli.«
    Lev blickte von seinem Kaffee auf. Er sagte nichts, weil seinem zerstreuten Kopf nichts Passendes einfallen wollte.
    »Na«, sagte Lydia, »immerhin merke ich, dass Sie schockiert sind. Es ist schockierend. Das finde ich auch. Ich bin 39, und diese Kreaturen, Jemima und Hugo, sind sieben und neun, und sie nennen mich ›Müsli‹.«
    »Sie sollten Ihnen verbieten, Sie so zu nennen.«
    »Das habe ich getan.«
    »Informieren Sie die Eltern, Lydia. Sagen Sie, dass Sie das nicht dulden werden.«
    »Ja? Um dann meine Stelle zu verlieren, wo es so schwierig war, überhaupt eine zu finden?«
    »Na ja ...«
    »Wissen Sie, ich war sehr glücklich mit Pjotr. Meinem lieben Maestro. Er fehlt mir so. Sie haben ja gesehen, dass ich alles für ihn getan habe. Wir haben uns so gut verstanden. Ich habe mir vorgemacht, diese Arbeit würde ewig dauern. Aber natürlich dauert nichts ewig. Ich hatte einfach sehr großes Glück, und jetzt ist alles schwarz geworden. So jedenfalls fühlt es sich für mich an.«
    »Verlassen Sie diese Familie, Lydia. Suchen Sie sich etwas anderes.«
    »Ja, das könnte ich. Nur, wo soll ich hin, jetzt, wo es Winter ist? Sie wissen doch noch, wie ich Sie vor englischen Wintern gewarnt habe. Wie lange sie dauern. Immerhin habe ich ein warmes Zimmer in dem Haus, einem sehr schönen, großen Haus. Ich habe ein Badezimmer für mich allein. Eigentlich sollte ich

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