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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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überall verteilten Leberflecken anfangs in der Bar der Festival Hall erhitzt gestrahlt hatte und dann, als er an den wütenden Konzertbesuchern vorbei nach draußen stolperte, ganz starr vor Ärger wurde. Er hatte das Gefühl, es sei sein Schicksal, sie stets zu enttäuschen.
    »Natürlich sind wir Freunde ...«, sagte er.
    »Also dann«, sagte Lydia. »Der Waterlow Park ist ziemlich klein. Kommen Sie um elf Uhr, ich werde Sie dort schon finden.«
    Er folgte ihren Anweisungen. Das war die andere seltsame Sache an Lydia, überlegte er, während er, mit seinem zerfledderten Stadtplan von London in der Anoraktasche, die Swains Lane entlangtrottete: Immer gehorchte er ihr − bis irgendetwas passierte, das ihn die Flucht ergreifen ließ. Er dachte, er gehorche ihr, weil die Busfahrt ihn an sie gebunden hatte. Es war ein merkwürdiges Band, ein Band aus hart gekochten Eiern und zur Übung laut ausgesprochenen englischen Wörtern und denFeldern Europas, die am Fenster vorbeiflogen. Ein Band, das eigentlich inzwischen zerrissen sein sollte, es aber nicht war.
    Sie stand auf einem matschigen Grasstreifen, eine einsame Figur in einem roten Mantel vor einem lichtlosen Dezemberhimmel. Als sie ihn auf sich zukommen sah, winkte sie heftig, als riefe sie um Hilfe. Darüber musste Lev lächeln: über die Mädchenhaftigkeit, die darin lag, die heimliche Verzweiflung. Er küsste sie auf die Wangen, die rosig vor Kälte waren. Sie berührte sein Gesicht. »Ihr Haar ist jetzt ziemlich lang«, sagte sie.
    Sie hakte sich bei ihm unter, und sie wanderten über das Gras zu einem knorrigen Baum. An seinen Ästen hingen große Objekte aus braun und rot und gelb bemaltem Pappmaché. Sie waren so leicht, dass der Wind sie bewegen konnte. Sie schwangen stumm hin und her und drehten sich manchmal um ihre Schnur.
    »Sehen Sie die?«, sagte Lydia. »Gefallen Sie Ihnen? Ich finde sie ziemlich originell.«
    »Was sollen die denn bedeuten?«, fragte Lev.
    »Oh«, sagte Lydia, »diese Frage dürfen Sie nicht mehr stellen, Lev. Solche Fragen gehören in die alte Zeit. Kunst ist heutzutage nur sie selbst. Diese Objekte sind das, was sie sind, genauso, wie Sie Sie sind und ich ich.«
    Lev sah zu dem Baum. Er irritierte ihn. Er erinnerte ihn an die Bäume hinter Auror, in die Stefan seine Geistertücher zu hängen pflegte. Ihm fiel auf, dass die Objekte in der Farbe von Herbstblättern bemalt worden waren. Er fand, der winterliche Baum sähe sehr viel schöner ohne diese baumelnden, von Menschen gemachten Dinge aus, doch er sagte nichts. Sie standen da und schauten den sich bewegenden Objekten zu, und ein brauner Mischling kam angelaufen und beschnüffelte sie. Lydia kniete sich hin und streichelte ihn. Sie sagte: »Ich hätte gern einen Hund. Ein kleines Geschöpf, das mich liebt.«
    Dann lotste sie Lev zu einem Gebüsch, wo Stechpalmen voller leuchtender Beeren mit roten Stoffknäueln dekoriert waren.Sie sagte: »In diesem Park bin ich glücklich. Wieso, weiß ich nicht. Ich glaube, es liegt daran, dass hier ein Verstand am Werk ist. Ein Verstand, der lauter Überraschungen bereithält. Gefällt Ihnen nicht auch, was sie mit dieser Stechpalme gemacht haben?«
    Lev schaute die Stoffknäuel an. Sie waren ihm gleichgültig. Alles Unechte war ihm gleichgültig. Irgendwo hinter sich vernahm er Geräusche eines beginnenden Tennisspiels, und er beneidete die Spieler. Er dachte, dass er hier in England nie mehr rannte , nur hinter seinen Spülbecken stand oder zu Bushaltestellen schlich oder Straßen entlangwanderte, so langsam wie ein alter Mann. Und diese Erkenntnis schmerzte ihn umso mehr, als er plötzlich − während er dastand und die so lächerlich aufgeputzte glänzende Stechpalme anstarrte − wusste, zu wem er am liebsten gerannt wäre. Regungslos stand er da und blickte auf den Boden. Dann befreite er sich aus Lydias Arm und suchte nach einer Zigarette. Seine Gedanken hatten ihn selbst schockiert. Er merkte, dass seine Hände zitterten.
    »Lev«, sagte Lydia, »ist alles in Ordnung?«
    Er zündete die Zigarette an. Er inhalierte tief und wartete, dass der Rauch ihn beruhigte.
    »Lev ...«, wiederholte Lydia.
    »Alles okay«, sagte er, »aber es ist kalt hier. Es fühlt sich nach Schnee an. Sollen wir zu dem Café gehen?«
    »Oh«, sagte Lydia, »eigentlich hatte ich einen schönen Spaziergang geplant, bevor das Licht schwindet. Sehen Sie, da kommt die Sonne ein bisschen heraus. Das wird Sie wärmen. Lassen Sie uns eine Runde durch den Park

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