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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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laut ihre Gebete, und sie zeigte Lev, wie er die Hände falten und sehr still neben ihr stehen sollte, während sie Jesus und seine Mutter Maria um bessere Zeiten für ihre Familie bat. Stefan ließ seine Frau machen, ohne Kommentar oder Protest. In späteren Jahren, als Lev schon neben seinem Vater in der Baryner Mühle arbeitete, hatte Stefan einmal zu seinem Sohn gesagt: »Ich habe deine Mutter immer beten lassen. Ich glaube zwar nicht an all diesen Jesus-Zauber, aber wer weiß? Stell dir vor, am Ende ist es doch wahr! Dann wären Inas Gebete eine Art Versicherung für mich. Sie könnten mich durch das enge Tor bringen.«
    Und als Marina starb, versuchte Ina alle damit zu trösten, dass Levs junge Frau jetzt im Paradies sei. Marinas Foto stand auf dem Balken neben der Ikone, und Inas Kerzen warfen ein goldenes Licht auf sie. »Sie ist dort«, flüsterte Ina oft. »Sie ist bei Gott, Lev. Das weiß ich. Jede Faser meines Herzens sagt mir, dass Marina im Himmel ist.«
    Heute waren religiöse Rituale wieder erlaubt. In der Weihnachtszeit legte Ina Tannenzweige in eine Ecke des Zimmers und wickelte kleine Geschenke in Krepppapier ein: Holzspielzeug für Maya, Handschuhe und Schals für Stefan und Lev. Der Baryner Holzhof gab seinen Arbeitern zu Weihnachten einen Tag frei. (Der Vorarbeiter der Mühle war ein großer Ehebrecher, und er erledigte seine Buße für die Sünden eines Jahres gern kompakt in den insgesamt 24 Stunden einer Familienweihnachtsfeier − um seine Affären mit Anbruch des neuen Jahres nur umso entspannter wieder aufzunehmen.)
    Ina schlachtete eine Gans und briet sie mit Rosmarin undKastanien, und Stefan öffnete eine Flasche − oder zwei − von seinem besten Wodka, und der Tag glitt friedlich hinüber in Dunkelheit und Schlaf. Lev konnte sich entsinnen, dass es wie eine Art Sterben war. Eine wohlige Resignation. Als würde, wenn die Sinne erst einmal durch reichliches Essen und ausgiebiges Trinken zur Ruhe gekommen waren, kein Morgen sie jemals mehr aufwecken können. Und wenn dieser Morgen dann doch grellweiß vor den kleinen Fenstern stand, stolperten die drei erwachsenen Bewohner des Hauses − die drei Überlebenden − erstaunt aus ihren Betten. Sie fühlten sich wie Lazarus.
    Schließlich fand Lev das Geschenk für Maya. Es kostete mehr als das, was er jede Woche nach Hause schickte. Es war eine Puppe, die wie ein lebendiges Baby aussah. Dieses Baby gluckste und öffnete und schloss die Augen und konnte seine Windeln nassmachen. Es trug einen Strampelanzug und lag in einem weichen Körbchen unter einer rosafarbenen Wolldecke, mit dem Kopf auf einem weißen, bestickten Kissen. Im Geiste sah Lev schon, wie Maya es wiegte. Sie würde es neben sich schlafen legen und mit sanften Befehlen und Anweisungen beruhigen.
    Für seine Mutter fand Lev eine amerikanische Drahtschere für ihre Schmuckproduktion und eine Schachtel mit Duftseife. Und als diese Geschenke in silberne Pinguine eingewickelt und abgeschickt waren, wurde ihm plötzlich ganz leicht ums Herz. Er war stolz, dass er sich solch anspruchsvolle Dinge leisten konnte.
    Zu Beginn der Weihnachtswoche rief Lydia an. Sie klang sehr unglücklich. Sie erzählte Lev, dass Pjotr Greszler sein Konzertprogramm in England beendet habe und in die Heimat zurückgekehrt sei. Sie habe sich nach anderen Übersetzungsaufträgen umgesehen, sagte sie, aber nichts gefunden. Es sei ihr allmählich peinlich gewesen, so lange bei Tom und Larissa in Muswell Hillzu wohnen, weshalb sie jetzt als Au-pair für eine reiche Familie in Highgate arbeite. Sie sagte: »Diese Stelle ist nicht zu vergleichen mit der anderen. Maestro Greszler hat mich respektiert. Hier in diesem Haushalt bin ich ein Nichts.«
    Sie sagte, sie habe ein Weihnachtsgeschenk für Lev. Ob er sich Sonntagmorgen mit ihr im Waterlow Park, nicht weit von ihrer Arbeitsstelle, treffen könne. Sie sagte: »Ich werde Ihnen den Park zeigen, in dem ich oft spazieren gehe. Ich mag ihn sehr. Er ist grün und ruhig, und manchmal hängen sie Skulpturen in die Bäume. Anschließend könnten wir im Café Rouge einkehren.«
    Lev sagte: »Ich habe kein Geschenk für Sie, Lydia. Mein letztes Geld habe ich für eine Puppe für Maya ausgegeben.«
    »Oh«, sagte Lydia, »das erwarte ich auch gar nicht. Aber wir sind doch noch Freunde, oder? Wir sind doch die Sorte Freunde, die im Park spazieren gehen können. Oder irre ich mich?«
    Lev konnte die Erregung in Lydias Stimme hören. Er dachte daran, wie ihr Gesicht mit den

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