Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
stößt sich selbst aus, damit er die Dinge an dem Ort, den er hinter sich gelassen hat, wieder in Ordnung bringen kann.«
    »Ja?«
    »Ja. Und die ganze Zeit verfolgt ihn die Vergangenheit. Sie werden sehen.«
    Er dankte ihr erneut. Er steckte das Buch in seine Anoraktasche.Er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Er holte etwas Geld für den Kaffee aus der Tasche und legte es auf den Holztisch.
    Er war jetzt weg. Weg von Highgate. Kam aus der U-Bahn-Station Kentish Town hoch in die frostige Luft. Rannte die Rossvale Road entlang. Hausnummern flogen vorbei. Ihre Straße. Denn wieso sollte ein Mann sich nicht für das Glück entscheiden? Hatte er, hatte nicht jeder das Recht − ganz gleich, ob einem die Frau gestorben war, ganz gleich, ob man sich gesagt hatte, so etwas werde man nie wieder tun − auf einen neuen Anfang?
    Es hatte zu schneien begonnen. Die wirbelnden Flocken fielen weich und kühl auf Levs Gesicht. Er hoffte, sie würden die ganze Nacht fallen, die Stadt mit Stille zudecken, ihn in dem Zimmer einmauern, zu dem er rannte, ihm eine weiche, weißviolette Morgendämmerung bescheren, eine Dämmerung wie die an jenem lang vergangenen Morgen, als Rudi und er den Tschewi nach Hause gefahren hatten ...
    Jetzt war er da, Rossvale Road Nr. 5. Klingeln. Dann das Warten aushalten. Dann ihre Stimme in der Sprechanlage. Ihre Stimme, die etwas heiser klang, was ihn, wie ihm jetzt aufging, immer schon gerührt hatte: die Stimme, die ihn befreien würde.
    »Ich bin’s, Lev.«
    Er war so schnell gerannt, dass er kaum Luft bekam. Ihm war ganz schwindelig vom Rennen, vom Sehnen, vom Hoffen.
    Die Sprechanlage war stumm. Dann hörte er das Summen des Türöffners. Er stieß die schwere Tür auf und stand in einem kleinen, mit blauem Teppich ausgelegten Flur, in dem überall ungeöffnete Reklamesendungen lagen. Er erkannte sich selbst in einem Spiegel: sein erhitztes Gesicht, sein wildes Haar, die pechschwarzen, glänzenden Augen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, sein Haar zu glätten.
    Er blickte die schmale Treppe hoch. Sophie war aus ihrer Wohnung im ersten Stock gekommen und stand in ihrer Tür und schaute zu ihm herunter.
    Sie trug einen Trainingsanzug, und ihre Füße waren nackt. In der Hand hielt sie eine Zeitung oder Illustrierte. Lev begann, die Stufen hochzugehen. Sophie rührte sich nicht, aber als er zu ihr hochschaute, bemerkte er ein sachtes Grübchenlächeln in ihren Wangen, als hätte sie auf ihn gewartet, ruhig und undramatisch gewartet, in der Gewissheit, dass er früher oder später kommen werde, dass er am Ende nicht überredet werden müsste, dass Warten alles war, was sie zu tun hatte.
    Als er oben bei ihr angelangt war, zog sie ihn sanft in die Wohnung und schloss die Tür. Er lehnte sie gegen die Wand. Er nahm ihre glänzenden Locken zwischen seine Hände. Jetzt wollte er ihr alles erzählen, was er empfand, aber er merkte, wie ihm die Worte wegglitten. Er legte seinen Mund auf ihren. Ihr Atem war süß wie Karamell.

10
»Die reinste Anarchie hier ...«
    Am Morgen des ersten Weihnachtstags erwachte Lev in Sophies Bett und sah, dass draußen vor dem Fenster mit den weißen Gardinen die Sonne schien. Er küsste Lenny, die tätowierte Eidechse. Sophie erwachte und murmelte: »Lenny findet, du schmeckst richtig lecker.«
    Lev streichelte ihr vom Schlaf noch fettig glänzendes Gesicht. Er sagte: »Ich würde gern Lenny sein. Immer in deiner Haut.« Sie lächelte und nahm seine Hand, küsste das dunkle Haar auf seinem Handrücken, streichelte damit ihre Oberlippe, als wäre es Pelz. Und er dachte: Ja, es stimmt, genau das möchte ich gern − unauslöschlich in ihr sein, nicht zu entfernen. Weil sie ihn so in Erstaunen versetzte. Und dieses Erstaunen blieb.
    Wenn er sie bei der Arbeit anschaute, merkte er, wie ihm das Herz stehen blieb. Er hätte sie dann am liebsten auf der Stelle, vor allen Köchen, in den Arm genommen. Während seiner langen Schicht an den Spülbecken horchte er auf den Klang ihrer Stimme. Er sehnte die Nacht herbei. Wenn er sein eigenes Spiegelbild betrachtete, sah ihn ein junger Mann mit traumverrückten Augen an.
    Er musste Rudi von ihr erzählen. An einem Sonntagmorgen, Sophie schlief noch, rief er ihn an und sagte: »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
    Er hörte Rudis Kuckucksuhr sieben schlagen. Rudi sagte müde: »Ich wusste, dass da was war.«
    Lev berichtete Rudi, alles sei völlig unerwartet gekommen und habe ihn im Sturm genommen und er

Weitere Kostenlose Bücher