Der weite Weg nach Hause
mich nicht beklagen. Aber meine alte Stelle war einfach so wunderbar, und jetzt habe ich es mit Ungeheuern zu tun. Verstehen Sie? Und in dem Haus gibt es keine Kultur. Nur Fernsehen und Play-Station-Spiele. Alle sehr gewalttätig. Ich will ihnen Gutenachtgeschichten vorlesen, aber nein, sie lachen mich aus. Sie sagen sogar, ich soll mich verp... Stellen Sie sich das vor!«
»Das ist schlimm ...«
»Aber ich merke, das langweilt Sie. Natürlich tut es das, denn da sitze ich und beklage mich schon wieder. Lassen wir das Thema. Es ist überhaupt nicht schön. Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, Lev.«
Lev blinzelte. Sein Puls raste noch immer. Etwas zu sagen erschien ihm qualvoll. Ihm war schwindelig vor Aufregung und Entsetzen.
»Es ist okay«, sagte er tonlos. »Ich habe Glück mit dem Zimmer, das Sie für mich gefunden habe. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Christy Slane ist ein guter Mensch.«
»Ja? Erzählen Sie mir von ihm.«
»Na ja, er hat auch seine Sorgen. Aber das wäre eine zu lange Geschichte. Ich muss bald los.«
»Ach nein. Gehen Sie nicht, Lev«, sagte Lydia. »Es ist doch Sonntag. Sollen wir nicht etwas zu essen bestellen?«
»Eigentlich habe ich keinen Hunger.«
»Wir können doch einfach ein Baguette mit Hühnchen nehmen. Oder einen Salat.«
»Ich bin nicht hungrig, Lydia.«
»Ach«, sagte Lydia mit einem Lächeln, »aber ich weiß noch, wie es im Bus war. Erst behaupteten Sie, Sie hätten keinen Hunger, und dann, nach einer Weile − nach einer nicht sehr langen Weile −, teile ich schon meine Eier und mein Roggenbrot und meine Schokolade mit Ihnen, und im Nu war alles weg. Erinnern Sie sich?«
»Ja.«
»Ich werde den Kellner um die Speisekarte bitten. Es ist nicht teuer, wenn wir nur die Baguettes nehmen.«
»Nein, ich möchte nichts essen.«
»Ich bezahle für Sie, Lev. Ich lade Sie ein.«
»Nein, ich muss jetzt gehen.«
Sie hörte die Bestimmtheit in seiner Stimme und blickte ihn entschlossen an. So blickte sie wohl auch die Kinder an, die sie Müsli nannten, dachte er, mit diesem tapferen Ausdruck, diesen weit geöffneten blauen Augen. Und dann gab sie irgendwann auf und wendete sich ab, so wie jetzt. Gerade bückte sie sich zu ihrer Handtasche neben ihren Füßen und zog ein längliches, sorgfältig in glänzendes Papier eingewickeltes Päckchen heraus und reichte es ihm.
»Tja«, sagte sie. »Ich bin ziemlich hungrig, aber das macht nichts. Hier ist Ihr Geschenk. Fröhliche Weihnachten, Lev.« Ihre Stimme war unsicher und leise.
Lev nahm es entgegen. Er wünschte, er hätte etwas für sie gekauft: eine Duftkerze, eine Flasche mit Badeöl ... irgendetwas . Ein billiges Geschenk für sie hätte die Situation gerettet, hätte ihn weniger egoistisch und unaufmerksam erscheinen lassen.
»Vielen Dank«, sagte er.
»Sie können es gleich aufmachen, wenn Sie mögen.«
Und da dachte er: Wenn ich es jetzt auspacke, kann ich ihr noch einmal danken, und dann kann ich gehen. Das Auspacken des Geschenks setzt unserem Treffen ein Ende und erlaubt mir, mich davonzumachen. Er betrachtete das Päckchen in seinerHand. Auf einem Geschenkkärtchen standen die schlichten Worte: Für Lev von Lydia.
»Würden Sie es nicht schöner finden, wenn ich bis Weihnachten warte?«, fragte er.
»Nein. Öffnen Sie es. Wieso nicht? Dann sehe ich doch, ob es Ihnen gefällt.«
Er begann, das Papier aufzureißen. Lydia holte ein kleines Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Sie sagte: »Vielleicht halten Sie es ja für ein seltsames Geschenk − nicht das, was Sie erwartet haben.«
»Ich habe überhaupt nichts erwartet.«
»Aber Sie werden verstehen, wieso es mir passend vorkam. Sie verstehen es bestimmt ...«
Es war eine Taschenbuchausgabe von Hamlet . Lev schlug das Buch auf und las auf Englisch: The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark. Act One.
»Oh«, sagte Lev. »Vielen Dank, Lydia. Ich habe mal einen russischen Film darüber gesehen, aber das Stück habe ich nie gelesen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet, Lev. Wer hat schon in Auror Hamlet gelesen? Aber diese Ausgabe hat sehr gründliche Anmerkungen, die helfen, das Stück zu verstehen. Wenn Sie hinten nachschauen, sehen Sie, dass da Anmerkungen sind.«
»Die werde ich ganz bestimmt brauchen ...«
»Und ich glaube, für uns, die wir Exilanten sind oder wie immer Sie uns nennen wollen, hat dieses Stück eine sehr große Bedeutung. Das werden Sie merken, wenn Sie es lesen. Prinz Hamlet ist nämlich ein Ausgestoßener. Oder, genauer, er
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