Der weite Weg nach Hause
wisse kaum, was er davon zu halten oder wie er sich zu benehmen habe.
»Na ja«, meinte Rudi, »Ist das nicht wie beim Fahrradfahren? Kommt das nicht von allein wieder?«
»Tut es das?«, sagte Lev. »Ich weiß nicht. Es kommt eigentlich nicht wieder . Es ist wie etwas Neues.«
»Aha?«
»Mit Marina war es wunderschön«, sagte Lev, »aber es ging so ... tief. Da war immer etwas ... da war immer etwas Zorniges dabei, etwas Dunkles oder Schwieriges. Diesmal ist es unschuldig.«
»Kann ich dir auch folgen, mein Freund? Bin mir nicht so sicher.«
»Das macht nichts. Wie soll man denn Liebe beschreiben? Aber es fühlt sich ... ich weiß nicht ... unkompliziert an. Verstehst du?«
Rudi gähnte und sagte: » Unkompliziert ist gut. Unkompliziert gefällt mir. Sieh zu, dass es so bleibt. Für etwas anderes bist du wahrscheinlich noch nicht reif. Wie heißt sie?«
»Sophie.«
»Sophie? Sie ist doch hoffentlich keine Russin?«
»Nein, sie ist Engländerin. Sie arbeitet im Restaurant. Sie möchte gern Köchin werden.«
»Okay«, sagte Rudi. »Wir haben eben alle unsere Träume.«
Beide schwiegen. Es schien, als wollte Rudi nicht weiter über Sophie reden, also fragte Lev: »Wie geht’s dem Tschewi?«
»Frag bloß nicht, Lev. Ich bin in der Getriebe-Hölle. Die verdammten Treibriemen habe ich immer noch nicht. Ich musste sie irgendwo in Deutschland bestellen. Schon der Versand kostet mich ein Vermögen. Und unterdessen knallt der Wagen dauernd überall gegen. Ich habe dir ja erzählt, wie sehr ich Bremsen und Stoßdämpfer strapaziere, weil der Tschewi nicht kapiert, in welchem Scheißgang er ist.«
»Das tut mir leid, Rudi.«
»Was soll ich denn machen, wenn der Wagen auseinanderfällt? Dann muss ich wieder mit Schwarzhandel anfangen. Und da krieg ich solche Albträume, dass ich eine Scheißangst vorm Einschlafen hab.«
»Und was ist mit den Horoskopen?«
»Den Horoskopen? Ach, na ja, die laufen ganz okay. Wir haben jetzt einen kleinen Kundenkreis − beziehungsweise Lora hat ihn. Es ist ein elender Abgrund von Mist, Lev. Mir wird ganz schwindelig, wenn ich daran denke, was für Lügen wir erzählen. Aber wir müssen doch leben oder etwa nicht?«
»Ja. Wir müssen leben.«
Wieder entstand ein Schweigen, in dem Lev die Uhr über Rudis Telefontischchen ticken hören konnte. Nach einem kurzen Augenblick sagte Rudi: »Hör zu, ich freue mich für dich, Lev. Wirklich. Ich freue mich sehr. Schick mir ein Foto von Sophie und ihr Geburtsdatum, dann kann Lora euch die Horoskope machen und schauen, ob ihr eine Zukunft habt.«
Eine Zukunft.
Darüber wollte Lev nicht nachdenken. Er war hier und jetzt zum Leben erwacht. Das war genug.
Und heute, am Weihnachtsmorgen, hatte Ina ihre amerikanische Drahtschere; Maya hatte ihre Puppe; und er hatte Sophie.
Das war mehr als genug.
Er schlief mit Sophie, sehr langsam, im weichen Morgenlicht, und beide nickten wieder für eine Weile ein. Dann standen sie auf und machten nebeneinander Frühstück: ein spanisches Omelett, Brot und Kaffee. Während sie aßen, starrte Lev auf all die Rot- und Goldabstufungen in Sophies Haar und auf ihren Mund über dem Rand der schweren grünen Kaffeetasse. Er dachte, wie gerne er mit ihr tanzen gehen würde.
Sie hatte ihn gewarnt, einen »normalen« ersten Weihnachtstag dürfe er nicht erwarten, da sie die meiste Zeit mit den alten Leuten im Ferndale-Heights-Pflegeheim verbringen werde. Weil nur wenige Vollzeitangestellte gern an Weihnachten dort arbeiteten, habe sie sich freiwillig für eine Sechsstundenschicht gemeldet. Sie hatte zu Lev gesagt: »Für einige Bewohner könnte es das letzte Weihnachtsfest sein, und das wissen sie.«
Lev hatte wissen wollen, was denn da zu tun sei, und sie hatte ihm erzählt, es gehe um die Vorbereitung des Weihnachtsessens und dann würden sie Spiele machen und miteinander singen. Sie sagte: »Vom Asti Spumante sind alle irgendwann leicht angesäuselt und driften in die Vergangenheit ab, aber das ist mir egal. Wenn man alt ist, fasst einen niemand mehr an, niemand hört einem zu − jedenfalls nicht in diesem Scheißland. Und genau deshalb mache ich das: Ich fasse sie an, und ich höre zu. Ich kämme ihnen das Haar. Ich mache Spiele mit Händeklatschen. Das ist ziemlich komisch! Und ich erfahre einiges über das Leben in der Nachkriegszeit, über Fertighäuser und bröckelnde staatliche Wohnbunker. Ich spiele auf meiner Gitarre, und manchmal müssen sie dann weinen. Am liebsten habe ich eine Frau namens Ruby.
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