Der weite Weg nach Hause
schabten und würfelten. Er sah, wie geschickt diese Hände waren und dass nichts in Sophie irgendwie auf Krankheit und Tod hinzuweisen schien. Häufig ertappte er sich dabei, wie er an den Kuss dachte. Er hätte gern das Schweigen zwischen ihnen gebrochen, wusste aber nicht, wie.
Er fragte Christy Slane um Rat. Christy probierte gerade eine neue Salbe gegen seine Ekzeme aus und hatte Nase und Wangen dick grün eingeschmiert.
»Mich darfst du nicht fragen«, sagte er. »Ich begreife jetzt,dass ich Frauen nie verstanden habe. Nie, nie. Verrückte Märzhasen verstehe ich besser, als ich jemals meine eigene Frau verstanden habe. Wenn du mich fragst, gehören eine Menge von ihnen auf den verdammten Mond geschossen.«
Je näher Weihnachten rückte, desto mehr trank Christy. Er erklärte Lev, am ersten Weihnachtstag werde er drei Schlaftabletten nehmen und erst aufwachen, wenn alles vorbei sei. Er sagte: »Die Vorstellung, dass Frankie ihren Strumpf zusammen mit Myerson-Hill aufmacht, bringt mich um.«
Lev starrte auf die grüne Salbe in Christys Gesicht. Dann sagte er: »Ich habe gute Idee. Du hörst mir zu, Christy? Wir machen hier Weihnachtsessen für Frankie. Pierre sagt mir eine schöne Soße für Truthahn. Und Füllung. Das kann ich machen.«
Christy sah Lev liebevoll an. Er kämpfte mit den Tränen, und seine blutunterlaufenen Augen glänzten feucht. »Du bist ein guter Mensch, Lev«, sagte er.
»Warum nicht?«, sagte Lev. »Alles hier schön machen für Frankie?«
»Schon mal deshalb nicht, weil ihre Mutter sie nicht herlassen würde. Nicht in Millionen Jahren. Aber es war ein schöner Gedanke. Ich bin froh, dass du mein Untermieter bist. Da habe ich Glück gehabt. Wenn wir Geld hätten, könnten wir in ein Flugzeug steigen und Weihnachten in deinem Dorf verbringen, was meinst du?«
»Das können wir nicht tun ...«
»Ich weiß, aber trotzdem fände ich es großartig. Rudi könnte uns am Flughafen abholen. Ich dürfte im Tschewi fahren. Und wir könnten den Kaufladen einpacken und Maya mitbringen.«
Weihnachten. Lev sah, wie das Fest in jeder Straße für sich Reklame machte und alle in Atem hielt. Überall sah er die Spuren der sorgenvollen Lähmung in den Augen der Menschen. Er begriff, dass Weihnachten vor allem für Christy ein Martyriumwar − eine Armada von Qualen, denen er sich nicht gewachsen sah. Tag um Tag verging, und er schien nur noch von einer Diät aus Kummer und Angst zu leben, ohne das kleinste Fitzelchen Fröhlichkeit.
In seiner freien Zeit wanderte Lev durchs West End, zwischen all den drängelnden Menschen, den langsam vorrückenden Bussen und dem Müll, starrte auf das Gefunkel ringsum und suchte nach einem Geschenk für Maya. In seinem Land waren Spielsachen stille Dinge − Gegenstände, die vor ihrem Kauf wie vergessen wirkten. Hier kreischten und blinkten sie in aggressiven Farben aus den Schaufenstern und protzten mit riesigen Preisschildern. Selbst die dazugehörigen Schachteln sahen teuer aus.
»Oje, vergiss die scheiß Oxford Street, scheiß Regent Street«, meinte Christy. »Geh in einen der Wohltätigkeitsläden in Camden. Da haben sie lauter selbst gemachte Sachen. Viel schöner für ein kleines Mädchen als irgendein batteriebetriebener Dinosaurier.«
Doch in dem Wohltätigkeitsladen hatte Lev das Gefühl, zu ersticken. Hustend schlich er zwischen alten Frauen herum, die schlappe Kleidungsstücke an verbeulten Stangen entlangschoben. Es roch nach ausgetretenen Schuhen und zerlesenen Büchern. Die hässliche Neonbeleuchtung erinnerte ihn an heruntergekommene Läden in Baryn. Die wenigen Plüschspielsachen, die er entdeckte, waren handgenäht aus Filz und hatten leblose Gesichter. Seine Tochter sollte aber über sein Weihnachtsgeschenk staunen.
Er verließ den Laden und kaufte auf dem Camden Market Geschenkpapier mit silbernen Pinguinen von einem Standbesitzer, der Kaugummi kaute, damit sein Gesicht in der bitterkalten Morgenluft nicht einfror. Zurück in der Belisha Road, rollte Lev das Papier so aus, dass die Pinguine sich auf seinem Fußboden ausstrecken konnten. Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete sie und dachte an Weihnachtsfeste in Auror. Erdachte daran, wie Ina in den kommunistischen Jahren, als christliche Rituale verboten waren, den Autoritäten getrotzt hatte, indem sie eine abgegriffene goldene Ikone hervorholte, sie auf den Holzbalken über dem Kamin stellte und drum herum Kerzen aufbaute.
Am Weihnachtsmorgen kniete sie dort nieder und sprach
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