Der weite Weg nach Hause
Sie ist bei Nonnen in Indien aufgewachsen. Sie kann sich noch an die Klosterschule und ihre Lieblingsnonne, Schwester Benedicta, erinnern − an jede Einzelheit, jedes Gefühl.«
Lev hatte gesagt, er würde gerne mitkommen nach Ferndale Heights, beim Essenmachen und Abwaschen helfen. Da hatte Sophie ihm die Arme um den Hals gelegt und gesagt: »Ich wusste, dass du ein guter Mensch bist. Kaum jemand ist das. Aber du. Ich habe es in deinem Gesicht gesehen.«
Sie wuschen das Frühstücksgeschirr ab. Sie duschten und zogen sich an, und Sophie schminkte sich. Sie sagte, glänzendes Haar, ein hübscher Lippenstift und Parfüm heiterten die Bewohner von Ferndale Heights auf. Lev trug seine alte Lederjacke, weil Sophie ihn in diesem Kleidungsstück mochte und sagte, er sehe sexy darin aus.
Sie wanderten Hand in Hand die Rossvale Road entlang zur U-Bahn-Station, blickten durch Fenster auf Weihnachtsbäume und Luftschlangen und falschen Schnee. Sophie trug ihre Gitarre in einem Segeltuchfutteral. Die Sonne schien auf schwarz gestrichene Zäune und auf letzte abgefallene Platanenblätter, die sich im Rinnstein gesammelt hatten, auf Menschen, dieneue Stricksachen trugen, und auf Hunde mit neuen Halsbändern und Leinen.
An der Einfahrt zu Ferndale Heights stand ein Blumenverkäufer in der Kälte. Er trug Halbfingerhandschuhe und eine wollene Mütze, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte. Auf einem Tapeziertisch hinter ihm standen Eimer mit langstieligen Rosen und Nelken und dazwischen auch mehrere Weihnachtssterne, und Lev musste stehen bleiben und sie anschauen.
»Okay, Meister?«, sagte der Blumenverkäufer und klatschte in die Hände, um sie zu wärmen.
»Ja?«, sagte Lev.
»Ein hübsches Weihnachtspräsent für die Verwandtschaft?«
»Entschuldigung«, sagte Lev.
Er ging eilig weiter, um Sophie einzuholen.
Ferndale Heights war ein dreistöckiger Backsteinbau mit Metallfensterrahmen und lag am Ende einer stillen Straße in East Finchley mit Blick über ein weites Dächermeer. Die Ziegelsteine waren dort, wo Kondenswasser aus Entlüftungsrohren die Wände herunter und dann auf einen betonierten Weg getropft war, fleckig schwarz verfärbt. Zu beiden Seiten des Wegs war grüner Rasen angelegt. Prächtige Eiben ließen letzte giftige Beeren auf den Rasen fallen, wo ein paar Tauben herumliefen.
»An schönen Tagen sieht es hier gar nicht schlecht aus«, sagte Sophie. »Es gibt schlimmere Orte zum Sterben.«
Drinnen erinnerte der Geruch Lev an das Krankenhaus, in dem Marina so lange gelegen hatte: Urin, mit Desinfektionsmitteln vermischt, abgestandener Kaffee, die schwache Andeutung von irgendetwas Unidentifizierbarem, soeben Verbranntem. Sophie nahm seine Hand. Das Haus wirkte still, als schlummerten alle Bewohner, und Lev dachte an Christy, der jetzt, vollgepumpt mit Schlaftabletten, allein in der Belisha Road in seinem abgedunkelten Zimmer lag und wartete, dass es wieder Abend würde.
Sophie führte ihn einen Flur entlang, in dem neben jeder Tür ein Namensschild angebracht war: Mrs. Araminta Hollander, Captain Berkeley Brotherton, Mrs. Pansy Adeane, Miss Joan Scott ... Aus manchen Zimmern drangen Geräusche kleinerer Kümmernisse: Räuspern, Husten, eine Stimme, die leise in ein Telefon weinte.
Vor der letzten Tür, die offen stand, als werde ihre Ankunft erwartet, blieben Lev und Sophie stehen. Sophie klopfte. Der Name neben der Tür lautete »Mrs. Ruby Constad«. Sie hörten langsame, schlurfende Schritte, dann stand eine große Frau vor ihnen, mit grau gelocktem Haar und Augen, die in dem farblosen, teigigen Gesicht immer noch fast schön aussahen. Um den Hals trug sie eine alte Perlenkette. »Sophie, Liebes«, sagte sie. »Fröhliche Weihnachten! Kommen Sie herein und setzen Sie sich. Jemand hat mir ein paar kandierte Pflaumen geschickt.«
Sie betraten Rubys kleines Zimmer, das bis in den letzten Winkel mit antiken Möbeln, gerahmten Ölbildern, Porzellannippes und angelaufenen Silbersachen vollgestopft war. Auf dem ordentlich gemachten Bett lag ein altmodisches Federbett unter einer grünen Brokatdecke. Ein Nachtstuhl stand direkt davor.
Sophie lehnte ihre Gitarre gegen einen Kaminschirm, der keinen Kamin abzuschirmen hatte. »Ruby«, sagte Sophie, »das ist mein Freund Lev.«
Ruby Constad hatte die Schachtel mit den Pflaumen genommen und hielt sie Lev mit ihrer leicht zitternden fleischigen Hand hin. Sie sagte: »Ich weiß nicht, wer sie mir geschickt hat. Nehmen Sie doch eine. Die Menschen
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