Der Weltensammler: Roman (German Edition)
du und deinesgleichen jede Erfahrung übersetzen. Was ich alles gesehen habe, das findet keinen Platz in den kleinen, kahlen Räumen, die du einrichtest.
Der alte Mann drehte sich um und ging die Gasse hinab, die zu seinem Haus führte. Die Ungläubigen haben dir den Kopf verdreht, rief ihm der Imam hinterher, das wissen alle! Du hast zu lange mit ihnen verkehrt, zu eng, du warst ihnen ausgeliefert, das ist dirschlecht bekommen. Deine linke Schulter wiegt schwerer als deine rechte. Der alte Mann schritt außer Hörweite. Zu allen anderen Unklarheiten gesellte sich nun diese: Wieso lauerte ihm der Imam immerzu auf, als sei er die einzige offene Rechnung in seiner Gemeinde. Er grübelte und geizte derweil mit Grüßen, bis er vor einer gewölbten Tür stehenblieb, deren linker Flügel offenstand. Auf dem Holz schwammen Fische zwischen Wellen, geschnitzt von einer beherrschten Hand, ruhig wie die Flaute. Dattelpalmen zierten den Rahmen, und in Augenhöhe seines jüngsten Enkels blühte eine Lotosblume. Mit jeder Frage des Kleinen erkundete er die Tür von neuem. Von dem Bogen hingen einige Papierfetzen herab, die seine Frau jeden Morgen mit Gebeten eng beschrieb, als würde sie der unveränderten Kalligraphie auf dem Holz nicht zutrauen, die Dschinns fernzuhalten. Der alte Mann rief seinen Wunsch durch den Innenhof, in dem sich alles sammelte, was für den ersten Stock nicht rein genug war, und setzte sich auf die steinerne Bank an der Außenwand. Es war noch früh, die Freunde würden sich später einfinden, aber er verspürte kein Bedürfnis, sich wie gewohnt hinzulegen und ein wenig zu dösen vor den Anstrengungen des Abends. Bald würde ihm Salim etwas Kokosmilch bringen. Er würde seinen jüngsten Enkel zu sich ziehen, sich eine Weile an seiner Frechheit erfreuen. Dann würde er sich auf der Bank ausstrecken und seinen Kopf auf die steinerne Lehne legen.
Der Tag verlangte nach einem weiteren Gebet. Der alte Mann auf der Baraza vor seinem Haus richtete ein Auge auf das Rinnsal der Ereignisse, das an ihm vorbeisickerte. Gedanken trieben durch seine Schläfrigkeit, die Wachablösung der Flaggen, das Einziehen der blutroten Fahne des Sultans, der er einst ins Ungewisse gefolgt war, angesteckt von dem eitlen Selbstbewußtsein jener beiden Fremden – hellhaarig und rothäutig der eine, dunkel wie ein Araber und vernarbt wie ein Krieger der andere –, die blind darauf vertrauten, daß ihre Herrlichkeit und die Flagge des Sultans bei den Herrschern im Inneren des Landes die erhoffte Wirkung zeitigen würden. Und zu seiner nachträglichen Verwunderung hatte sich dieses Vertrauen bewährt. Er hatte überlebt, diese und drei weitere Reisen. Er hatte überlebt.
Und dann, viel später, kurz nachdem er zum ersten Mal Großvater geworden war, tauchte wieder ein Mzungu auf, hellhäutiger als die anderen – der Ruhm des alten Mannes mußte ihm den Weg gewiesen haben. Ein gehetzter Mann, linkisch wie Bwana Speke, ehrgeizig wie Bwana Stanley. Er forderte Sidi Mubarak Bombay auf, ihn ins Landesinnere zu führen. Sie hatten im Innenhof gesessen – die Wazungu empfanden es als unhöflich, wenn man sie auf der Straße empfing, bat man sie aber in den Innenhof, spiegelte sich auf ihrem Gesicht die Abscheu vor den umherschweifenden Hunden und Hühnern und dem in einer Ecke dösenden Sklaven, dem Speichel aus dem aufgefallenen Mund rann – und seine Gedanken hatten mit der Idee einer weiteren, einer fünften Reise gespielt, als er die Stimme hörte, die vom ersten Stock herabfiel wie ein Knüppel. Wenn du mich noch einmal verläßt … der Mzungu verstand die Sprache nicht, gewiß aber den Tonfall … werde ich den letzten Rest Freude aus deinem Leben kratzen! Eine Angst, klebrig wie eine überreife Mango, hatte sich auf einmal seiner bemächtigt. Nicht wegen dieser Drohung seiner Frau. Zum ersten Mal verspürte er die Angst, nicht heimzukehren. Der Mzungu verlangte nach Auskünften, die nach Blut rochen, nach Verhängnis schmeckten – alles an ihm war maßlos. Er schien zu glauben, die Welt wäre so, wie er sie sich in seinem Kopf ausmalte. Und wenn die Welt ihn enttäuschen sollte, würde er die Welt verändern? Sei unbesorgt, hatte er seiner Frau zugerufen. Du wirst mich nicht los! Einen Augenblick lang hatte er überlegt, ob er diesen Besessenen mit falschen Angaben in die Irre führen sollte, doch er gab den Gedanken gleich wieder auf, es hätte nichts gefruchtet. Seinerzeit hatte er seine Spielchen mit den Wazungu getrieben,
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