Der Weltensammler: Roman (German Edition)
die Beobachtungen in gebotener Länge aufzeichnen. Wenn es etwas gibt, auf das er sich freut, so ist es dieses schriftliche Vergegenwärtigen. Er wird nicht alles aufschreiben, nicht alles dem Manuskript anvertrauen. An äußeren Details wird er nicht sparen, der Naturwissenschaft breiten Raum einräumen, um die Fehler zu beseitigen, die seine Vorgänger in die Welt gesetzt haben. Ungenauigkeiten sind ihm ein Dorn im Auge. Aber seine Gefühle wird er nicht verraten. Nicht alle. Zumal, er ist sich seiner Gefühle nicht immer sicher gewesen. Er will nicht weitere Unklarheit in die Welt setzen. Es wäre unangemessen; zudem kann er es sich nicht leisten. Wer in England wird ihm ins Dämmerreich folgen können, wer wird verstehen, daß die Antworten verschleierter sind als die Fragen?
OSTAFRIKA
In der Erinnerung verschwimmt die Schrift
SIDI MUBARAK BOMBAY
Sansibar, die Insel, war dem eigenen Hafen zum Opfer gefallen. Das Riff öffnete sich wie ein Tor in einem Wall aus Korallen. Fremde hatten nur die Segel einzuziehen, ihre Flaggen zu hissen. Die Segel wurden geflickt und verschnürt, bis zum nächsten Auslaufen. Die Flaggen flatterten vorläufig, bis sie von anderen Flaggen vertrieben wurden. Die Standarte des Sultans wurde eingeholt, und Sidi Mubarak Bombay, der an seinem angestammten Platz am Kai saß, kicherte in sich hinein, als könne er es nicht fassen, wie vielen Dummheiten er in seinem Leben schon begegnet war. Alles geht unter, sagte eine Stimme zu seiner Linken. Nichts wird sich ändern, widersprach eine ältere Stimme zu seiner Rechten. Ein neues Banner wurde hochgezogen; flott, wie eine Absichtserklärung: Rot dankte ab, an seine Stelle traten pfeilspitze Sonnenstrahlen, die über einen blauen Himmel in alle Richtungen jagten, und daneben, wohl zu Ehren der großen, schweren Schiffe, die vor dem Hafen ankerten, ein schwarzes Kreuz, die Standarte jenes Herrschers, den die Weißhäutigen Kaiser nannten. Wahrlich, murmelte der alte Mann, kein Tag setzt sich dort hin, wo ein anderer schon gesessen hat. Er verabschiedete sich von den Männern, mit denen er sein Staunen geteilt hatte, und zog sich in die Altstadt zurück, deren enge Gassen die Einladung des Riffs zurücknahmen.
Wer in Sansibar landete, war noch lange nicht angekommen. Dafür bedurfte es Zeit, und an Zeit mangelte es den Weißhäutigen. Ihre Neugier verflog, bevor ihnen der Appetit verging. Dem Wind und den Wellen waren sie eher gewachsen als dem Labyrinth der Fassaden. Der alte Mann krauchte entlang verkrusteter Korallensteinbauten,bedrängt von Gestalten, die den späten Nachmittag durcheilten. Er machte einen Bogen um den geschäftigen Salzmarkt, nahm eine Abkürzung durch den Fleischmarkt, der von allem verlassen war außer dem Gestank. Die Gassen waren nun weniger voll, die Gestalten, die ihm entgegenkamen, grüßten im Vorbeigehen. Er erreichte die Moschee seines Viertels. Die vielstimmige Rezitation einer Sure drang aus der benachbarten Medresa. Der alte Mann blieb stehen und stützte sich mit seinen Händen an die Hauswand. Der Stein war runzelig, kühl; beruhigend wie ein vertrautes Gesicht. Er schloß die Augen. Die Rezitation der Ikhlas-Sure, ein schönes Plätschern, ein leeres Versprechen: Es gab nichts Ewiges, selbst wenn es mit Kinderstimmen beschworen wurde. Die Wahrheit, über Nacht verflogen, mußte jeden Morgen neu gesucht werden. Jemand trat neben ihn. Es wäre an der Zeit, daß du die Moschee von innen erblickst. Die Stimme des Imams war belegt. Der alte Mann öffnete seine Augen nicht. Das würde den Imam, der auf die Wirkung seiner hell leuchtenden Augen vertraute, verunsichern. Hast du nie Angst, Baba Sidi? Der Tod wird dich bald abholen. Der alte Mann rieb seine Handflächen über die rauhe Wand. Ich bin verwirrt, sagte er nach einer Weile, langsam, als würde jedes seiner Worte zaghaft auftreten. Ich weiß nicht, ob ich mich in eine Leiche verwandeln werde oder in einen Geist. Deine Gedanken sind blind, Baba Sidi, sie führen dich in den Abgrund. Der alte Mann öffnete die Augen. Ich kenne die Moschee von innen. Wie das? Ich habe in ihr gebetet, da warst du noch in Oman. Aber ich mußte auf eine Reise gehen, drei Jahre lang war ich unterwegs, zu Fuß habe ich die halbe Welt durchquert … Ich weiß, jeder weiß von deinen Geschichten, Baba Sidi. Nein, du kennst die Geschichte nicht, nicht wirklich, und ich werde sie dir nicht erzählen. Wovor hast du Angst, Baba Sidi? Vor der Sprache der Einfaltspinsel, in die
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