Der Wettlauf zum Suedpol
sie nicht da. Sie legten ihr Depot auf 84 Grad an und fuhren weiter Richtung Süden. Nach einem Tag im Nebel, der ihnen vollständig die Sicht raubte, lagen die Berge plötzlich nahe vor ihnen, und das Terrain nahm zusehends einen wellenförmigen und zerklüfteten Charakter an – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich dem Übergang vom Schelfeis zum antarktischen Festland näherten. In diesem Gelände richteten sie ihr 85-Grad-Depot ein – und waren noch immer auf der Eisplatte. Das hieß, dass sie mehr als 180 Kilometer weniger auf dem Hochplateau würden zurücklegen müssen als Scott, der auf Shackletons Spuren bereits am nordwestlich gelegenen Beardmore-Gletscher in diese Hochgebirgsregion mit ihrer dünneren Höhenluft emporsteigen würde.
Abb 132
In den Vorratslagern der Norweger mangelte es an nichts – auch nicht an sorgfältig versiegelten Kanistern mit dem lebenswichtigen Brennstoff Paraffin.
Amundsen hatte nun eine schwierige Entscheidung zu treffen: An welcher Stelle sollte sein Aufstieg beginnen – am Fuße einer Bergkette, die bis
dahin noch nie ein Mensch betreten hatte? Der Blick von unten auf diese gewaltigen Erhebungen war zweifellos trügerisch, die Perspektiven waren verzerrt und die wahren Ausmaße der Höhenzüge kaum abzuschätzen. Die im Süden entdeckte Bucht schien bei näherer Betrachtung als Weg zum Plateau auszufallen – sie machte einen äußerst unruhigen Eindruck, sodass Schwierigkeiten zu erwarten waren. Amundsen entschloss sich deshalb, die Idealroute zum Pol zu verlassen und leicht nach Südwesten abzuschwenken in Richtung eines Gipfels, den er »Bienenstock« nannte.
Zunächst jedoch wollte er am Fuße der Gebirgskette ein zusätzliches Depot anlegen, denn es ging nun darum, mit möglichst wenig Gepäck den schwierigen Aufstieg in Angriff nehmen zu können. »Wie jede wichtige Entscheidung wurde auch diese Sache gemeinsam besprochen«, schrieb Amundsen im Rückblick. »Die Entfernung, die wir von hier aus zum Pol und wieder zurück vor uns hatten, betrug 1100 km. Mit dem Aufstieg, den wir vor uns sahen, mit anderen unvorhergesehenen Hindernissen und schließlich mit der sicheren Tatsache vor Augen, dass unsere Hundekräfte nun auf einen Bruchteil der bisherigen verringert werden mussten, beschlossen wir, für 60 Tage Lebensmittel nebst Ausrüstung auf die Schlitten zu laden und den Rest – genügend für 30 Tage – in dem Vorratslager zurückzulassen. Nach der Erfahrung, die wir bisher gemacht hatten, rechneten wir uns aus, dass wir imstande sein müssten, von hier an mit 12 Hunden durchzukommen. Jetzt hatten wir 42 Hunde, die alle bis zur Hochebene gebracht werden sollten. Dort wollten wir 24 schlachten und die Reise mit 3 Schlitten und 18 Hunden fortsetzen. Von diesen 18 mussten nach unserer Annahme auch noch 6 geschlachtet werden, wenn wir die übrigen 12 wieder hierher zurückbringen wollten.«
Am 17. November gegen Mittag machten sich die Männer an das Umpacken der Schlitten. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, dass Amundsen die Verpflegung bewusst einfach gehalten hatte. Hauptnahrungsmittel für Menschen und Hunde war Pemmikan, eine von den Indianern Nordamerikas erfundene Mischung aus getrocknetem Fleisch mit Talg und Knochenmarksfett. Das lange haltbare und äußerst nahrhafte Konzentrat konnte kalt gegessen oder aufgewärmt werden, wobei der Pemmikan für die Tiere nach einer anderen Rezeptur zubereitet wurde als für die Menschen. Deren Speiseplan bestand zudem nur noch aus Zwieback – der nun noch einmal durchgezählt wurde – und Schokolade. Der Flüssigkeitshaushalt
wurde mithilfe von geschmolzenem Schnee reguliert, in den bei den Mahlzeiten Milchpulver eingerührt wurde, das die Männer in 300-Gramm-Paketen mitführten. Mehr Auswahl gab es während der ganzen Reise nicht. Von aufputschenden Getränken wie Tee oder Kaffee hatte Amundsen Abstand genommen. Zuletzt hängten die Männer die Kleidung, die sie seit inzwischen vier Wochen getragen hatten, zum Lüften auf. »Wenn wir dann in zwei Monaten zurückkamen, würden sie sicher genügend gelüftet sein, sodass wir sie wieder anziehen konnten«, so Amundsen.
Am Morgen des nächsten Tages begann der, so Bjaaland, »schreckliche Aufstieg«. Das Wetter war ausnehmend gut, und man konnte sich an einen Skiausflug in den Bergen erinnert fühlen, hätten nicht die schweren Schlitten mit anderthalb Tonnen Last die steilen Hänge hinaufbefördert werden müssen. Mitunter mussten zwei Gespanne vor einen
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