Der Widersacher
Enttäuschung wie einen festen Gegenstand in seiner Kehle. Er wollte einen neuen Fall. Er
brauchte
einen neuen Fall. Er musste den Gesichtsausdruck des Mörders sehen, wenn er an seine Tür klopfte und seine Dienstmarke zückte, die personifizierte Gerechtigkeit, die nach all den Jahren völlig unerwartet doch noch auftauchte. Danach konnte man süchtig werden, und im Moment hielt es Bosch kaum mehr aus ohne diesen Kick.
Den ersten Umschlag gab Lieutenant Duvall Rick Jackson. Er und sein Partner Rich Bengtson waren tüchtige Ermittler, die seit der Gründung der Einheit dabei waren. Daran gab es für Bosch nichts auszusetzen. Der nächste Umschlag wurde auf den leeren Schreibtisch gelegt, der Teddy Baker gehörte. Sie und ihr Partner Greg Kehoe waren gerade auf dem Rückweg von einer Festnahme in Tampa, Florida – ein Pilot, der aufgrund seiner Fingerabdrücke mit einer 1991 in Marina del Rey strangulierten Flugbegleiterin in Verbindung gebracht worden war.
Bosch wollte Lieutenant Duvall schon vorschlagen, den Umschlag einem anderen Team, nämlich seinem, zu geben, weil Baker und Kehoe mit dem Marina-Fall bereits ausgelastet seien. Doch dann sah Gail Duvall ihn an und winkte ihn mit dem letzten Umschlag in ihr Büro.
»Könnten Sie und Chu kurz zu mir kommen? Und Sie auch, Tim?«
Tim Marcia war der Spieß der Einheit, ein 3 er-Detective, der hauptsächlich Supervisions- und Organisationsaufgaben übernahm. Er betreute die jungen Detectives und passte auf, dass die alten wie Jackson und Bosch nicht nachlässig wurden.
Bosch war bereits aufgestanden, bevor Duvall den Satz ganz zu Ende gesagt hatte. Gefolgt von Chu und Marcia, ging er in ihr Büro.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Duvall. »Setzen Sie sich.«
Duvall hatte ein Eckbüro mit Fenstern, die sich auf die Spring Street und das Gebäude der
Los Angeles Times
öffneten. Aus Angst, sie könnte von den Reportern in den Redaktionsräumen auf der anderen Straßenseite beobachtet werden, ließ sie die Jalousien immer unten. Deshalb wirkte ihr Büro düster und höhlenartig. Bosch und Chu nahmen auf den zwei Stühlen vor Duvalls Schreibtisch Platz. Marcia, der das Büro als Letzter betrat, lehnte sich an einen alten Beweismittelsafe.
»Ich möchte, dass Sie beide diesen Fall übernehmen«, erklärte Duvall und reichte Bosch den gelben Umschlag. »Etwas daran ist eigenartig, und deshalb möchte ich, dass Sie möglichst nicht groß darüber reden, solange Sie nicht wissen, was genau Sache ist. Halten Sie Tim auf dem Laufenden, aber ansonsten behalten Sie das Ganze erst mal für sich.«
Der Umschlag war bereits geöffnet worden. Chu beugte sich zu Bosch herüber, als dieser die Lasche hochklappte und den Formularbogen herauszog. Darauf standen die Fallnummer der DNA -Probe sowie Name, Alter, letzter bekannter Wohnsitz und Vorstrafen der Person, mit deren genetischem Profil sie übereinstimmte.
Als Erstes fiel Bosch auf, dass die Fallnummer mit 89 begann. Das hieß, es war ein Fall aus dem Jahr 1989 . Weitere Einzelheiten der Straftat waren nicht angegeben, nur die Jahreszahl. Bosch wusste, dass für Fälle aus diesem Jahr eigentlich Ross Shuler und Adriana Dolan zuständig waren. 1989 – er war damals als Mordermittler bei der Sondereinheit gewesen – war ein arbeitsreiches Jahr gewesen, und er hatte sich erst vor kurzem mit einem seiner eigenen ungelösten Fälle aus diesem Jahr befasst. Shuler und Dolan hießen in der Einheit »die Kids«. Sie waren junge, engagierte und gut ausgebildete Ermittler, hatten aber zusammen nicht einmal acht Jahre Erfahrung mit Mordfällen. Wenn also an diesem kalten Treffer irgendetwas eigenartig war, war es kein Wunder, dass ihn Lieutenant Duvall lieber Bosch gab. Bosch hatte in mehr Mordfällen ermittelt als alle anderen in der Abteilung zusammen. Das heißt, wenn man Jackson nicht mitzählte. Er war schon ewig dabei.
Als Nächstes warf Bosch einen Blick auf den Namen auf dem Formular: Clayton S. Pell. Er sagte ihm nichts. Pells Vorstrafenregister beinhaltete zahlreiche Festnahmen und drei Verurteilungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung. Wegen der Vergewaltigung hatte er sechs Jahre im Gefängnis gesessen und war vor achtzehn Monaten entlassen worden. Seine Bewährungsfrist betrug fünf Jahre, und die Angaben zu seinem letzten bekannten Wohnsitz stammten vom staatlichen Bewährungsausschuss. Er lebte in einem Rehabilitationszentrum für Sexualstraftäter in Panorama
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