Der Widersacher
seine Mutter in einem Motelbett an einer Überdosis starb, während er neben ihr schlief, nahmen die Schrecken seiner Kindheit ein neues Gesicht an. Er wurde der Obhut des Department of Children’s Services übergeben und bei einer Reihe von Pflegeeltern untergebracht. Aber er hielt es nirgendwo lang aus und nutzte jede Gelegenheit, um auszureißen. Er erzählte dem Gutachter, dass er, seit er siebzehn war, allein gelebt hatte. Auf die Frage, ob er je eine feste Anstellung gehabt habe, erklärte er, das Einzige, wofür er jemals bezahlt worden sei, sei Sex mit älteren Männern.
Es war eine erschütternde Geschichte, und Bosch wusste, dass viele, die auf der Straße oder in Gefängnissen ihr Dasein fristeten, ein ähnliches Schicksal teilten. Menschen, deren Kindheitstraumen in ihrem Erwachsenendasein Niederschlag fanden, häufig in immer wiederkehrenden Verhaltensmustern. Es war das Rätsel, dem Hannah Stone immer wieder von neuem auf den Grund zu kommen versuchte.
Bosch sah die zwei anderen PSI -Gutachten durch und fand dort Variationen derselben Geschichte, auch wenn Pells Erinnerungen an bestimmte Zeitpunkte und Altersstufen in einigen Fällen geringfügig voneinander abwichen. Trotzdem war es im Großen und Ganzen dasselbe, und das immer wiederkehrende Muster, das sich darin abzeichnete, war entweder ein Zeichen für die Faulheit der Gutachter oder die Richtigkeit von Pells Aussagen. Bosch vermutete, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Die Gutachter gaben lediglich wieder, was sie erzählt bekommen hatten, oder schrieben aus einem früheren Gutachten ab. Es waren keinerlei Anstalten gemacht worden, Pells Geschichte zu bestätigen, geschweige denn, die Personen zu finden, die ihn missbraucht hatten.
Bosch holte sein Notizbuch heraus und fasste darin kurz die Fakten über den Mann namens Johnny zusammen. Er war sich inzwischen sicher, dass bei der Handhabung der Beweise nicht gepfuscht worden war. Am nächsten Morgen hatten er und Chu einen Termin im Bezirkslabor, den zumindest Chu wahrnehmen würde – und sei es auch nur, um später bezeugen zu können, dass sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatten.
Bosch hatte jedoch keinen Zweifel mehr, dass das Labor keine Schuld traf. Er spürte, wie Adrenalin in seinen Blutkreislauf zu tröpfeln begann, und er wusste, es würde bald zu einem reißenden Strom, von dem er sich vorantreiben lassen konnte. Inzwischen glaubte er zu wissen, wer Lily Price auf dem Gewissen hatte.
[home]
12
A m Morgen rief Bosch seinen Partner aus dem Auto an und bat ihn, allein ins Labor zu fahren.
»Und was machst du so lange?«, fragte Chu.
»Ich muss noch mal nach Panorama City. Einer Spur nachgehen.«
»Was für einer Spur, Harry?«
»Etwas mit Pell. Ich habe gestern Abend seine Akte durchgesehen und bin dabei auf was gestoßen. Das will ich überprüfen. Ich glaube nicht, dass sie im Labor was falsch gemacht haben, aber für den Fall, dass es beim Prozess zur Sprache kommt, müssen wir es nachprüfen –
falls
es zu einem Prozess kommt. Einer von uns muss bezeugen können, dass wir im Labor waren und uns selbst davon überzeugt haben.«
»Und was soll ich ihnen sagen, wenn ich dort bin?«
»Wir haben einen Termin mit der stellvertretenden Leiterin. Sag ihr einfach, wir müssen untersuchen, was genau mit den Beweisstücken des Falls passiert ist. Du redest mit der Laborratte, die für den Fall zuständig war, und damit hat es sich. Zwanzig Minuten, allerhöchstens. Mach dir Notizen.«
»Und was machst du in der Zwischenzeit?«
»Hoffentlich mit Clayton Pell über einen gewissen Johnny reden.«
»Worüber?«
»Das erzähle ich dir, wenn ich ins Präsidium zurückkomme. Ich muss jetzt Schluss machen.«
»Har…«
Bosch hatte bereits die Trenntaste gedrückt. Er wollte sich nicht mit Erklärungen aufhalten. Das bremste ihn nur. Er wollte den Schwung nicht verlieren.
Zwanzig Minuten später fuhr er auf der Suche nach einem Parkplatz in der Nähe der Buena Vista Apartments die Woodman hinunter. Als er keinen fand, parkte er an einem rot markierten Randstein und ging einen Block zum Rehabilitationszentrum zurück. Er fasste durch die Öffnung im Tor und klingelte im Büro. Dann wies er sich aus und verlangte nach Dr. Stone. Das Tor wurde entriegelt, und er ging hinein.
Hannah Stone erwartete ihn mit einem Lächeln im Eingangsbereich des Büros. Er fragte, ob sie ein eigenes Büro oder sonst ein Zimmer habe, in dem sie sich ungestört unterhalten könnten, und sie
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