Der Widersacher
so langer Zeit noch haben«, sagte er. »Die Obduktionsfotos waren leider nicht in der archivierten Akte, weshalb wir uns nur auf diese Fotos stützen können. Und aus ihnen geht hervor, dass die Schlinge um den Hals des Opfers mindestens vier Zentimeter breit war.«
»Ein Gürtel vielleicht?«
»Genau. Und jetzt sehen Sie sich das an. Direkt unter dem Ohr ist eine andere Vertiefung, ein anderes Abdruckmuster.«
Er zeigte auf ein Foto in der zweiten Klarsichthülle.
»Ein Quadrat.«
»Ja. Wie eine quadratische Gürtelschnalle. Und jetzt das Blut.«
Er blätterte zur ersten Hülle zurück und deutete auf die drei Polaroids darin. Auf allen war der Blutfleck am Hals des Opfers zu sehen.
»Nur ein Blutstropfen, der an ihren Hals geschmiert wurde. Er ist genau in der Mitte des Schlingenabdrucks. Das heißt, er könnte von der Schlinge auf den Hals des Opfers übertragen worden sein. Vor zweiundzwanzig Jahren hat man sich diesen Blutstropfen so erklärt, dass sich der Täter eine blutende Verletzung zugezogen hat und ein Blutstropfen auf das Opfer gefallen ist. Und dass er dann versucht hat, das Blut wegzuwischen, aber etwas davon zurückgeblieben ist.«
»Aber Sie glauben, es ist durch eine Übertragung an den Hals des Opfers gelangt?«
»Richtig. Es ist die einzige vernünftige Erklärung, und jetzt kommt Pell ins Spiel. Es war sein Blut – das Blut eines Achtjährigen auf dem Opfer. Wie ist es dorthin gelangt? Legen wir unseren Überlegungen die Übertragungstheorie zugrunde, kam es vom Gürtel. Die Frage ist also nicht mehr, wie das Blut auf Lily gekommen ist, sondern wie es auf den Gürtel gelangt ist.«
Bosch klappte den Ordner zu und steckte ihn in seinen Aktenkoffer zurück. Dann zog er die dicke Akte vom Amt für Bewährungshilfe heraus. Er hielt sie mit beiden Händen hoch und schüttelte sie leicht.
»Ist alles hier drin. Als Sie gestern Abend gesagt haben, Sie dürften nicht gegen die Schweigepflicht verstoßen, habe ich Ihnen gesagt, ich hätte bereits seine PSI -Gutachten. Ich habe sie gestern Abend zu Hause noch gelesen und bin dabei auf etwas gestoßen, was hervorragend zu diesen immer wiederkehrenden Verhaltensmustern passt und …«
»Er wurde mit einem Gürtel geschlagen.«
Bosch lächelte.
»Vorsicht, Frau Doktor, Sie wollen doch keine vertraulichen Informationen weitergeben. Vor allem, da Sie es gar nicht müssen. Steht nämlich alles hier drin. Pell hat jedes Mal die gleiche Geschichte erzählt, wenn er psychologisch begutachtet wurde. Als er acht war, lebten er und seine Mutter mit einem Typen zusammen, der ihn regelmäßig misshandelt und irgendwann auch sexuell missbraucht hat. Wahrscheinlich hat ihn das zu dem gemacht, was er jetzt ist. Und Teil dieser Misshandlungen war, dass er mit einem Gürtel geschlagen wurde.«
Bosch öffnete den Ordner und reichte ihr das erste Gutachten. »Er wurde so brutal geschlagen, dass er blutete. In dem Gutachten steht, dass er von den Schlägen Narben davongetragen hat. Damit sich Narben bilden, muss es zu Schnitten oder Rissen in der Haut kommen, und wenn das der Fall ist, tritt Blut aus.«
Er beobachtete sie, als sie mit konzentrierten Blicken das Gutachten überflog. Das Handy in seiner Tasche begann zu vibrieren, aber er ignorierte es. Wahrscheinlich war es Chu, der ihm sagen wollte, dass er im DNA -Labor fertig war.
»Johnny«, sagte Stone und gab ihm das Gutachten zurück.
Bosch nickte.
»Ich bin ziemlich sicher, dass er unser Mann ist. Deshalb muss ich unbedingt mit Pell reden. Vielleicht kann er mir noch mehr über diesen Johnny erzählen. Hat er Ihnen gegenüber mal seinen vollständigen Namen erwähnt? In den PSI s nennt er ihn immer nur Johnny.«
»Nein. Bei unseren Sitzungen hat er ihn auch nur Johnny genannt.«
»Dann muss ich unbedingt mit ihm reden.«
Sie zögerte und dachte über etwas nach, was Bosch offensichtlich nicht berücksichtigt hatte. Er hatte angenommen, sie wäre über diese neue Spur genauso begeistert wie er.
»Was ist?«
»Harry, ich muss dabei auch erwägen, was das alles für ihn bedeutet: wenn die ganze Vergangenheit wieder aufgerührt wird. So leid es mir tut, aber sein Wohlergehen steht an erster Stelle. Es hat Vorrang vor Ihren Ermittlungen.«
Bosch wäre lieber gewesen, sie hätte das nicht gesagt.
»Moment«, hielt er dagegen. »Was heißt, seine ganze Vergangenheit wird wieder aufgerührt? Das alles steht doch in jedem seiner drei psychologischen Gutachten hier. Er hat doch sicher über diesen
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