Der Widersacher
wird.«
Bosch schaute auf den Bildschirm. Sie hatte recht mit ihrer Beobachtung. Aber es war kein schlüssiger Beweis. Trotzdem war er stolz auf ihren Scharfblick. Ihm fiel auf, dass ihre Beobachtungsgabe immer erstaunlicher wurde. Er fragte sie oft, woran sie sich erinnern konnte von Orten, an denen sie gewesen waren, oder von Begegnungen, die sie gehabt hatten. Sie registrierte immer mehr und behielt auch mehr, als er erwartet hätte.
Vor einem Jahr hatte sie ihm erzählt, sie wolle Polizistin werden, wenn sie mit der Schule fertig sei. Ein Detective wie er. Er konnte nicht beurteilen, ob das nur ein vorübergehender Spleen war, aber er ging darauf ein und begann, sein Wissen und seine Erfahrung an sie weiterzugeben. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war, in ein Restaurant wie das Du-par’s zu gehen und dort die Gäste zu beobachten und aus ihren Mienen und Verhaltensmustern Rückschlüsse auf ihre Person zu ziehen. Bosch brachte ihr bei, nach verräterischen Anzeichen Ausschau zu halten.
»Sehr gut beobachtet«, bemerkte er jetzt anerkennend. »Spiel es noch mal.«
Sie sahen sich das Video zum dritten Mal an, und diesmal fiel Bosch etwas Neues auf.
»Hast du das gesehen? Er schaut ganz rasch auf die Uhr, nachdem er unterschrieben hat.«
»Na und?«
»Was interessiert einen Toten noch die Uhrzeit? Warum könnte er nachgesehen haben, wie spät es ist, wenn er wirklich springen wollte? Für mich sieht das eher so aus, als wollte er sich mit jemandem treffen. Oder als wartete er auf einen Anruf. Aber das war beides nicht der Fall.«
Bosch hatte sich bereits im Hotel erkundigt. Nachdem Irving Suite neunundsiebzig bezogen hatte, war dort kein Anruf mehr ein- oder ausgegangen. Außerdem hatten Bosch und Chu inzwischen dank der PIN , die sie von der Witwe erhalten hatten, Irvings Handy untersucht. Nachdem Irving um siebzehn Uhr seinen Sohn Chad angerufen hatte, hatte er nicht mehr telefoniert. Das Gespräch hatte acht Minuten gedauert. Am nächsten Morgen waren auf seinem Handy drei Anrufe von seiner Frau eingegangen, die nach ihm gesucht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er jedoch bereits tot gewesen. Deborah Irving hatte ihrem Mann jedes Mal eine Nachricht hinterlassen und um Rückruf gebeten.
Bosch wandte sich wieder dem Laptop zu und spielte die Eincheck-Sequenz ein weiteres Mal ab. Dann ließ er das Video weiterlaufen und überbrückte die Phasen, in denen an der Rezeption nichts passierte, mit dem Schnellvorlauf. Irgendwann begann sich seine Tochter zu langweilen und drehte sich auf die Seite, um zu schlafen.
»Könnte sein, dass ich noch mal wegmuss«, sagte Bosch. »Ist das okay für dich?«
»Triffst du dich noch mal mit Hannah?«
»Nein, ich muss noch mal ins Hotel. Ist das okay?«
»Sicher. Ich habe doch die Glock.«
»Klar.«
Im letzten Sommer hatte Madeline auf dem Schießstand eifrig trainiert, und Bosch fand, dass sie inzwischen sowohl in Sachen allgemeiner Handhabung als auch Treffsicherheit mit einer Schusswaffe umzugehen wusste – nächstes Wochenende würde sie sogar zum ersten Mal an einem Schießwettbewerb teilnehmen. Wichtiger als ihre Kompetenz im Umgang mit einer Waffe war jedoch, dass sie sich der damit verbundenen Verantwortung sehr deutlich bewusst war. Er hoffte, sie würde die Waffe nie außerhalb eines Schießstands benützen müssen. Aber wenn es sich nicht umgehen ließe, wäre sie dazu in der Lage.
Er blieb neben ihr auf dem Bett sitzen und schaute sich weiter das Video an. Es war nichts darauf, was seine Aufmerksamkeit erregte oder dem er nachgehen zu müssen glaubte. Als die DVD zu Ende war, stand er vorsichtig auf, löschte das Licht und ging ins Esszimmer. Er wollte vom Irving-Fall zu den Lily-Price-Ermittlungen springen. Er öffnete seinen Aktenkoffer und breitete die Akten aus, die er sich am Nachmittag im Amt für Bewährungshilfe geholt hatte.
Clayton Pell hatte als Erwachsener dreimal vor Gericht gestanden. Jedes Mal wegen sexuell motivierter Straftaten, die sich in den zehn Jahren seiner fortwährenden Konflikte mit dem Gesetz immer weiter hochgeschaukelt hatten. Mit zwanzig war er mit Exhibitionismus eingestiegen, um sich mit einundzwanzig zu Nötigung und Exhibitionismus zu steigern und schließlich drei Jahre danach mit der Entführung und Vergewaltigung eines weniger als zwölf Jahre alten Jungen in die Vollen zu gehen. In den ersten beiden Fällen war er zu einer Bewährungsstrafe beziehungsweise einer Haftstrafe in einem Bezirksgefängnis verurteilt
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