Der Widersacher
führte ihn in eins der Sprechzimmer.
»Mit mehr kann ich leider nicht dienen«, sagte sie. »Ich teile mir mein Büro mit zwei anderen Therapeuten. Was gibt’s, Detective? Ich hätte eigentlich nicht gedacht, Sie so bald schon wiederzusehen.«
Bosch nickte zum Zeichen, dass es ihm genauso ging.
»Sagen Sie bitte Harry zu mir. Ich würde gern mit Clayton Pell sprechen.«
Sie runzelte die Stirn, als brächte er sie damit in eine schwierige Situation. »Also, Harry, wenn Clayton ein Verdächtiger ist, bringen Sie mich in eine äußerst …«
»Ist er nicht. Können wir uns einfach kurz setzen?«
Sie deutete auf einen Stuhl, der, vermutete er, für die Klienten oder Patienten oder wie man sie nennen wollte gedacht war, während sie sich auf einen Stuhl ihm gegenüber setzte.
»Also«, begann Bosch. »Zuerst muss ich Ihnen sagen, dass sich das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, zu unwahrscheinlich anhören wird, um ein Zufall zu sein – wobei ich übrigens nicht an Zufälle glaube. Aber worüber wir gestern Abend beim Essen gesprochen haben, passt hervorragend zu dem, was ich gestern nach dem Essen beim Aktenstudium herausgefunden habe … und deshalb bin ich hier. Ich brauche Ihre Hilfe. Ich muss mit Pell reden.«
»Und nicht, weil er ein Verdächtiger ist?«
»Nein, er war viel zu jung. Wir wissen, dass er Lily Price nicht umgebracht haben kann. Er ist ein Zeuge.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich rede jetzt fast sechs Monate lang viermal wöchentlich mit ihm. Ich glaube, wenn er Zeuge des Mordes an diesem Mädchen geworden wäre, hätte sich das in irgendeiner Form bemerkbar gemacht, ob nun im Unterbewusstsein oder sonst wo.«
Bosch hob beschwichtigend die Hände.
»Nein, er war beim Mord selbst sicher nicht dabei, und wahrscheinlich weiß er nicht einmal etwas darüber. Aber ich glaube, dass er den Mörder kannte. Er kann mir helfen. Hier, sehen Sie sich das mal an.«
Er öffnete seinen Aktenkoffer, der zwischen seinen Füßen auf dem Boden stand. Er zog die Originalmordakte von Lily Price heraus und schlug sie rasch bei den Klarsichthüllen mit den verblichenen Polaroidfotos vom Tatort auf. Stone stand auf und kam an seine Seite, um sie sich anzusehen.
»Also, die Aufnahmen sind zwar alt und verblasst, aber trotzdem sind die Spuren der Schlinge am Hals des Opfers noch zu erkennen. Sie wurde stranguliert.«
Bosch hörte, wie Hannah Stone abrupt einatmete und ein entsetztes »O Gott« hauchte.
Er klappte den Ordner hastig wieder zu und schaute zu ihr hoch. Sie hielt eine Hand an den Mund gepresst.
»Entschuldigung. Ich dachte, Sie wären es gewohnt, so was zu seh…«
»Bin ich auch, bin ich auch. Es ist nur, dass man sich nie daran gewöhnt. Mein Spezialgebiet ist abweichendes Sexualverhalten und sexuelle Dysfunktion. Aber die schlimmstmögliche Ausprägung einer solchen Störung zu sehen …«
Sie deutete auf den geschlossenen Ordner.
»Das ist, was ich zu verhindern versuche. Es ist entsetzlich, so etwas ansehen zu müssen.«
Bosch nickte, und sie bat ihn, ihr die Fotos noch mal zu zeigen. Er öffnete den Ordner und blätterte zu den Klarsichthüllen. Er wählte eine Nahaufnahme vom Hals des Opfers aus und deutete auf die leichten Einkerbungen in Lily Prices Haut.
»Sehen Sie, was ich meine?«
»Ja«, sagte Stone. »Das arme Mädchen.«
»So, und jetzt sehen Sie sich das an.«
Er blätterte zu einer Polaroidaufnahme auf der nächsten Seite und forderte sie auf, sich den Abdruck genau anzusehen. In der Haut war eine deutliche Vertiefung zu erkennen.
»Ja, ich sehe, was Sie meinen. Aber was hat das zu bedeuten?«
»Dieses Foto wurde aus einem anderen Winkel aufgenommen, und deshalb ist darauf der obere Rand der Vertiefung zu sehen. Auf dem ersten Foto war der untere Rand zu sehen.«
Er blätterte eine Seite zurück und verdeutlichte mit dem Finger die Unterschiede zwischen den beiden Aufnahmen.
»Sehen Sie es?«
»Ja. Aber trotzdem verstehe ich nicht, was das Ganze soll. Das sind lediglich zwei Linien. Was bedeuten sie?«
»Also, die beiden Linien befinden sich auf verschiedenen Höhen ihres Halses. Das heißt, sie sind der obere und der untere Rand der Schlinge. Und sie verraten uns nicht nur, wie breit die Schlinge war, sondern auch – und das ist noch wichtiger –, worum es sich dabei genau gehandelt hat.«
Daumen und Zeigefinger spreizend, fuhr er die Linien auf einem der Fotos nach und markierte so ein vier bis fünf Zentimeter breites Band.
»Das ist alles, was wir nach
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