Der Widerschein
diese Last aufgebürdet hatte, würde sich früher oder später zu erkennen geben und ihr eine Aufgabe stellen, wie sie diesen Fluch wieder loswerden konnte. Da sich bisher kein solcher Jemand zu erkennen gegeben hatte, war es momentan viel wichtiger, die unvermeidbare Tatsache so in ihr Leben einzubinden, dass ihr Tun nur wenig eingeschränkt wurde.
Eine passende Lösung hatte sie jedoch noch nicht finden können.
In ihrem Heim zog sie sich daher täglich neue Verletzungen zu.
Die an der Decke hängenden Töpfe und Kessel schlugen ihr gegen den Kopf oder fielen scheppernd auf ihre Füße; Tisch und Stühle brachen in regelmäßigen Abständen unter ihr zusammen; Regale – voll von unzähligen mysteriösen Arzneien und Tinkturen, Schutzartefakten, magischen Büchern, Heilkräutern und Kristallkugeln – stürzten urplötzlich auf sie nieder, wenn sie ihnen nur zu nahe kam. Ihre berühmte Sammlung magischer Edelsteine und heilsamer Zauberpulver hatte sich durch mehrere solcher Unfälle nach und nach in sämtliche Ritzen des Holzbodens und unter die zahlreichen Schränkchen, Kistchen und sonstigen Möbelstücke ihrer bescheidenen Hütte verteilt.
Bei derartigen Vorkommnissen zog sie sich natürlich regelmäßig blaue Flecken und dicke Beulen zu. War in früheren Zeiten allerdings auch noch jemand bei ihr gewesen, so hatte diese Begegnung weitaus fataler geendet: entweder mit dem überraschenden Ableben der anwesenden Person oder einer nur wenig glimpflicheren Katastrophe.
All dessen war sich Lucia Giannotti sehr wohl bewusst.
Früher hatte sie verzweifelt versucht, dagegen anzukämpfen.
Aber schon der Gedanke an ein mögliches Fehlverhalten sorgte dafür, dass in geschlossenen Räumen exakt jene Dinge eintraten, die auf gar keinen Fall eintreten durften.
Suchte sie etwas, fand sie es nicht.
Durfte etwas unter keinen Umständen zerbrechen, ging es kaputt.
Hatte sie jemanden gern, brach sie ihm ungewollt ein Bein oder übergoss ihn mit heißem Öl.
Trotz alledem hegte Lucia Giannotti die stete Hoffnung, irgendwann einmal in einem richtigen Haus in einer schönen Stadt leben zu können, mit allem, was dazu gehörte.
Die Tatsache, dass sie einen Gast in ihrer Hütte hatte, beunruhigte die Giannotti insgeheim sehr. Hier lag nun jemand vor ihr, der – so ihr Horoskop – ihr Leben verändern sollte.
Auch nachdem die Giannotti sich schlafen gelegt hatte, wirbelten ihre Gedanken weiter umher.
* * *
Wenige Tage, nachdem die Meisterin Ferdinand auf die Straße gesetzt hatte, wurde ihre Kutsche in der Abenddämmerung von zwei Unbekannten angehalten und im Handumdrehen ausgeraubt. Obwohl Gerlach seinen beiden Handlangern klare Vorgaben gemacht hatte – keine unnötige Gewalt, Gepäck und Junge unversehrt zu ihm, unerkannt verschwinden –, im Eifer des Gefechts hatte sich nur die letzte dieser Regeln als durchführbar erwiesen.
Vor allem der Junge fehlte.
Trotz dieser schlechten Nachricht blieb Gerlach ruhig, ließ sich den Ablauf der Ereignisse mehrmals ausführlich schildern.
Der Junge sei unauffindbar, die Meisterin leider ums Leben gekommen; zudem wollte oder konnte sie bis zu ihrem Ende nicht sagen, wo sie Ferdinand zuletzt gesehen hatte; auch der Kutscher konnte nicht helfen; zu allem Übel waren die erbeuteten Geldkisten nur halbvoll.
Nach dem Bericht seiner Gehilfen erteilte Gerlach ihnen erneut den Auftrag, Ferdinand zu finden und unversehrt herzubringen. Dafür sollten sie den von der Meisterin zurückgelegten Weg abgehen und – in Ermangelung eines Bildes des Jungen – nach auffälligen verwaisten Kindern Ausschau halten. Die zu erwartende Belohnung bestand aus der Hälfte der erbeuteten Geldkisten.
Als er wieder allein war, warf Gerlach einen Blick in die erhaltenen Gepäckstücke. Unter den Kleidern der Meisterin fand er rasch, was er erhofft hatte: mehrere akkurat geführte Rechnungsbücher, in denen sämtliche Aufträge und Verkäufe ordentlich aufgelistet waren.
Gerlach interessierte sich nicht dafür, wie viel Geld Bros im Laufe der Jahre angehäuft hatte – Gerlach war lediglich auf die Namen seiner Auftraggeber aus.
Beim ersten Durchblättern der Seiten rutschten aus einem der Bücher einige mehrfach gefaltete Papiere hervor. Statt Briefen oder Ergänzungen hielt Gerlach plötzlich vier Zeichnungen in der Hand, die sein Herz schneller schlagen ließen und Schweiß auf seine Stirn trieben.
Behutsam breitete Gerlach die Werke vor sich aus, um seinen Fund genauer zu betrachten.
Das
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