Der Widerschein
menschliche Subjekte vollständig aus dem Stadtbild entfernen zu lassen. Landstreicher, Bettler und Aussätzige entsprachen noch nie den bürgerlichen Idealen. Öffentliches Herumlungern stand zwar unter Strafe, allerdings zeigte diese Drohung allein keine nennenswerte Wirkung.
Am sichersten erschien es daher, jene Individuen bereits am Betreten der Stadt zu hindern.
Um den Erfolg dieser Maßnahme zu garantieren, rekrutierte man kurzerhand zusätzliches Wachpersonal, welches rund um die Uhr an den Stadttoren patrouillierte. Diese neuen Wächter bestanden zum einen Teil aus müßigen Tagelöhnern – wodurch man automatisch die Zahl der potentiellen Bettler verringerte –, zum anderen konnte man regelmäßig alte oder verarmte Soldaten gewinnen, die ihre neue Aufgabe erfreulich ernst nahmen.
Der Verdienst dieser zusätzlichen Kräfte berechnete sich vor allem am Erfolg: Pro Fang – wie man die Ergreifung eines unschönen Subjekts nannte – zahlte die Stadt eine derart eng kalkulierte Provision, so dass die Fänger – wie man die neuen Wächter der Stadt nannte – das Gebiet rund um die Stadt fortlaufend kontrollieren mussten, um von diesem Beruf leben zu können.
An erfolglosen Tagen setzten die Fänger daher effektive Methoden ein, um die Quote stabil zu halten und ihre soeben begründete Zunft zu rechtfertigen: Schon wenige Faustschläge und eine Handvoll Erde ließen jeden respektablen Bürger wie einen Leprakranken aussehen.
Selbst wenn sich diese derart verwandelten Menschen bei ihrer Vernehmung überraschend durch Zeugen als ehrbar herausstellten, erfolgte vom Magistrat die dringende Ermahnung, sich im Interesse der öffentlichen Ordnung nicht erneut aufgreifen zu lassen.
Man möge in Zukunft auf sein Äußeres mehr Wert legen.
Auch für derartige Fälle bekamen die Fänger eine entsprechende Provision ausbezahlt.
Der Tag war für die Fänger bisher erfolglos verlaufen. Jener Junge sollte sie für all die langweiligen Stunden entschädigen. Die widersprüchliche Mischung aus Trägheit und Tatendrang unter den Männern sorgte dafür, dass man ohne große Vorsicht begann, Ferdinand ein passendes Äußeres zu verleihen. Man trat ihn zu Boden und wälzte seine Kleider sorgfältig im Dreck, bis er unehrenhaft genug erschien.
So abrupt, wie der Überfall begonnen hatte, endete er jedoch auch. Als der Anführer der Fänger erstarrte, hatte seine Gefolgschaft bereits den Rückzug angetreten. Aus der Dämmerung kam eine Gestalt näher: wehende Kleider, zerzauste Haare, blitzende Augen.
* * *
In der Stadt interessierte man sich nur geringfügig dafür, wieso man verhaftet wurde oder weshalb man ins Gefängnis kam. Spannender war es zu erfahren, was mit jenen Individuen, die im städtischen Kerker saßen, in nächster Zukunft geschehen würde. Um die Kinder der Städter von unüberlegten Entdeckungsreisen abzuhalten, hatten sich zahlreiche Anekdoten zur Abschreckung bewährt.
Man erzählte sich etwa, dass junge Burschen als Galeerensklaven endeten, mit einer Kette am Fußgelenk, bei Wasser und Brot, bis an ihr Lebensende. Junge Frauen und Mädchen landeten im Harem eines dunkelhäutigen Kalifen, ebenfalls angekettet und ohne Aussicht darauf, jenen Ort jemals wieder verlassen zu dürfen. Erwachsene Männer schickte man in einen der großen Kriege jenseits des Ozeans. Treulose Ehefrauen, Alte und Kranke wurden – so wurde jedenfalls behauptet! – bei lebendigem Leibe verbrannt, heimlich und selbstverständlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Die furchterregendste Geschichte hatte jedoch einen allzu wahren Hintergrund.
Der Alptraum für alle Kinder der Gegend war es nämlich, an Lucia Giannotti zu geraten.
Den Erzählungen nach kam sie nur einmal im Monat in die Stadt – nachts, bei Vollmond – und kaufte armen oder verzweifelten Eltern ihre missratenen Kinder ab, mit Vorliebe solche, die sich in dem kritischen Zustand zwischen Kindheit und Erwachsensein befanden.
Weshalb sie das tat, darüber sprach man innerhalb der Stadtmauern nur hinter vorgehaltener Hand.
Sie könne doch gegen jede Art von Krankheit eine geheime Medizin herstellen.
Aber dafür brauche sie mit Sicherheit ungewöhnliche Zutaten.
Etwa das Blut von vorlauten Kindern.
Das benötige man sicher auch, um in die Zukunft sehen zu können!
Das könne diese verfluchte Hexe ganz vortrefflich, habe man gehört.
Und solches Blut helfe ganz gewiss, um die Mächte des Bösen gefügig zu machen!
Man habe sie mit jenen Vagabunden
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