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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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erste der Bilder zeigte Bros, stolz vor seiner Staffelei stehend; die zweite Zeichnung stellte die dunkle Nische eines unbekannten Raumes dar.
    Gerlach brummte zufrieden, zog das nächste Fundstück zu sich heran.
    Dieses Blatt konnte für einen längeren Moment Gerlachs Aufmerksamkeit gewinnen.
    Obwohl er es vorher nie zu Gesicht bekommen hatte, erkannte Gerlach sofort, dass es sich bei diesem Werk um jene berühmte Szene handelte, von der Bros fortlaufend erzählt hatte, die sogenannte Geburtsstunde seines Erfolgs: der Markt in Amsterdam.
    Bevor er jedoch einen genaueren Blick darauf warf, besah er das letzte Blatt.
    Diese letzte Zeichnung irritierte Gerlach.
    Hier war ebenfalls der Markt in Amsterdam zu sehen. Aber schon auf den ersten Blick war ihm klar, dass dieses Werk weder durch Bros noch durch seinen Lehrling entstanden war. Dennoch legte sich plötzlich ein Lächeln in Gerlachs Gesichtszüge. Auf dem Bild sah man eine gewaltige Menschenmenge vor schmalen hohen Häusern. Nahezu alles auf dieser Zeichnung richtete sich auf einen gemeinsamen Fluchtpunkt aus, in dem eine kindliche Person hockte und aus dem Bild herausblickte.
    Gerlach saß mit offenem Mund da, starrte auf das Bild und auf die Person in der Mitte.
    Kein Zweifel: Dies war Ferdinand Meerten vor dem Amsterdamer Markt.
    Da waren streitende Männer, die drohend ihre geballten Fäuste und angespannte tätowierte Oberarme vorzeigten; Frauen, die sich weit aus den Fenstern der obersten Stockwerke herauslehnten und neugierig auf den überfüllten Platz herunterstarrten; Hunderte von Leuten, dicht gedrängt: Männer, Damen, Arbeiter, umringt von Wachleuten, die am Rand standen, sich schwerfällig einen Weg durch die vielschichtige Menge bahnten. Hier und da glaubte Gerlach zwischen den unzähligen Körpern der Menschen sogar Dinge zu erkennen, die dort sicherlich so nicht hingehörten – womöglich herrenlose Hunde oder Kinder mit verschlammten Händen und Füßen, die sich, soweit sie konnten, durch die Masse hindurch und zur Mitte hin drängelten.
    Auch Meister Bros wurde von Gerlach in diesem gewaltigen Durcheinander entdeckt: Bros, wie er zusammengesunken am Rand saß und seinen Kopf hängen ließ – ganz im Widerspruch zu seiner berühmten Geschichte, in der schließlich er der wahre Held jener Szene gewesen war.
    Zwischen all diesen beeindruckenden Gestalten und lebhaften Situationen wirkte die zentrale Figur – Ferdinand! – erschreckend klein, jämmerlich und unscheinbar. So sah der Junge also aus – nein, so hatte er damals ausgesehen, immerhin lag diese Reise mittlerweile schon Jahre zurück!
    Gerlach zitterte.
    Dann rief er seine Magd, rief, sie möge schnellstmöglich seine beiden Gehilfen zurückholen.
    * * *
    Am nächsten Morgen verließ die Giannotti kurz nach Sonnenaufgang ihre Hütte. Beflügelt von den gestrigen Ereignissen vergaß sie sogar, ihr allmorgendliches Horoskop zu erstellen.
    Sie war viel zu aufgeregt.
    Auf einer nahen Lichtung erwartete die Giannotti einmal pro Woche einige Damen aus der Stadt, die sich heimlich für wenige Münzen, einen Korb mit Lebensmitteln oder sonstige Geschenke die kommenden sieben Tage weissagen ließen.
    Galt Lucia Giannotti zwar als zwielichtige Gestalt, der man besser aus dem Weg ging – die Verlockung, von ihr rätselhafte, phantastische oder sogar nützliche Dinge zu erfahren war für manche wagemutige Stadtfrau Grund genug, sich einmal pro Woche auf den Weg zu ihr zu machen.
    Die Treffen liefen bisher jedes Mal gleich ab.
    Bevor die Giannotti den vereinbarten Platz betrat, belauschte sie die Damen aus sicherer Entfernung und erfuhr dadurch häufig, welche Teile ihrer Prophezeiungen tatsächlich eingetreten waren. Sobald sie genug Informationen beisammen hatte, zerzauste sie ihre Haare, setzte eine grimmige Miene auf, raschelte geheimnisvoll mit herumliegenden Ästen und trat schließlich so überraschend wie möglich auf die Lichtung.
    Sofort verstummten die Damen, alle starrten die Giannotti ängstlich und fasziniert an.
    Dann begann der schwere Teil ihrer Arbeit.
    Denn diese wöchentlichen Vorhersagen bereiteten der Giannotti von Mal zu Mal größeres Kopfzerbrechen. Die simple Zukunft jener einfachen Stadtfrauen zu bestimmen kostete sie wider Erwarten eine enorme Anstrengung. Erschwerend kam mit der Zeit hinzu, dass die Damen sich nicht nur dafür interessierten, ob es ihren Liebsten gutging oder der Ehemann treu blieb, sondern auch, welche individuellen Höhepunkte die kommende Woche

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