Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
Überprüfung.
    Daher begann sie nach dem Essen wie zufällig, den Raum in Ordnung zu bringen, und fing ein scheinbar interessiertes Gespräch mit ihrem jungen Gast an. Ferdinand beantwortete ihre Fragen, half, Ordnung herzustellen, und bedankte sich für ihre Gastfreundschaft.
    Ohne ihm zuzuhören, achtete die Giannotti währenddessen auf sich selbst. Früher hatte jeder halbwegs scharfe Gegenstand auf ihrer Hand einen Schnitt hinterlassen, jetzt las sie spitze Sandkörner auf, ohne sich eine einzige Verletzung zuzuziehen. Keine Ecke rempelte sie an, kein Holzscheit schlug ihr auf die Füße und auch die niedrige Eingangstür verabreichte ihr heute keinen Kopfstoß.
    Es stimmte! Der Junge war ein Glücksbringer, ihr persönlicher Talisman.
    Unvermittelt wurde die Giannotti aus ihren Visionen gerissen.
    Der Junge, Ferdinand, stand vor ihr, reichte ihr ein Stück Papier.
    Verdutzt nahm die Giannotti das feine Papier entgegen und ließ ihren Blick darauf sinken.
    Auf dem Bild war eine wunderschöne Dame zu sehen.
    Wie in Trance erhob sie sich und nahm vor einem stumpfen Spiegel Platz, vor dem sie sonst ihr allmorgendliches Horoskop erstellte.
    Schon das bloße Hinsetzen vor dem Spiegel gehörte für die Giannotti sonst zu einem streng ablaufenden Ritual. Karten, Knöchelchen und Steinchen wurden in immergleicher Weise zur Hand genommen, ausgelegt und im trüben Spiegelbild ausgiebig betrachtet. Je nachdem, ob die Konstellation der Artefakte der Giannotti vertraut erschien, entschied sie, welche Art von Beschäftigung für sie heute am günstigsten sei. Ihr eigenes Spiegelbild betrachtete sie nur, wenn das Horoskop wider Erwarten keine Auskunft über ihre Tätigkeit verriet und mit wenigen unbewussten Handgriffen ausgebessert werden musste.
    Geistesabwesend schob die Giannotti nun all ihre hellseherischen Utensilien zur Seite, so dass viele der Knochen und Kiesel hörbar auf den Fußboden kullerten.
    Erst nach einigen Augenblicken begriff die Giannotti, dass dieses kleine Kunstwerk nicht irgendeine Frau darstellen sollte, sondern sie selbst.
    Sie betrachtete das Bild.
    Ihr gezeichnetes Abbild ähnelte ihrem Spiegelbild in gewisser Hinsicht, die Abweichungen waren jedoch nicht zu übersehen. Auf dem Papier schienen ihre Wangen zu leuchten, im Spiegel wurde ihr Gesicht von tiefen Augenringen beherrscht. Ihre Gestalt wirkte auf der Zeichnung prachtvoll und erhaben – in Wirklichkeit fühlte sich die Giannotti meistens müde und erschöpft.
    Während sie vor dem Spiegel saß und abwechselnd Blicke auf ihre zwei Abbilder warf, begannen ihre Gedanken zu arbeiten. Visionen wirbelten durch ihren Kopf – Visionen, die sie wunderschön darstellten, in denen sie in einem prachtvollen Haus lebte, mit Personal, Kindern und einem Ehemann, alle ebenso schön und erhaben wie sie selbst. Schon träumte sie sich in vielfältige Situationen hinein: Sie erteilte Anweisungen an ihr Personal, unterhielt sich mit den freundlichen Nachbarn, lachte mit ihren Kindern und gab sich den zarten Umarmungen ihres fürsorglichen Gatten hin. Schmuck und Kleider erschienen ihr, ehrbare Personen grüßten sie ehrfurchtsvoll, man lobte sie und ihren erlesenen Geschmack, jedermann kannte ihren Namen, man gebrauchte ihn mit Achtung und sprach ihn vor allem richtig aus.
    Die Giannotti konnte nicht genug von ihren Wunschvorstellungen sehen. Sie wollte am liebsten sofort darin versinken und nie wieder aufwachen.
    Aber schon saß sie wieder in ihrer elenden Hütte, ein Stück Papier in der Hand haltend. Ferdinand reichte ihr eine Nadel, mit welcher sie das Blatt im hölzernen Rahmen des Spiegels feststeckte. Fasziniert beobachtete Lucia Giannotti, dass sie die Nadel berühren konnte, ohne sich mit dieser einen einzigen Stich zuzuziehen. Das Befestigen im Rahmen kostete sie zwar Kraft, fügte ihr jedoch keinerlei Schmerzen oder sonstiges Übel zu.
    Zufrieden betrachtete sie ihr Werk.
    Sie wolle nun in den Wald gehen, Pilze und Beeren sammeln. Seine Verletzungen seien nicht schlimm, nicht wahr? Sie würde sich über seine Gesellschaft sehr freuen. Dann könne er ihr mehr von sich erzählen, wo er herkäme, wie es ihn in diese Gegend verschlagen habe, was er denn vorher gemacht habe.
    Ohne die Zustimmung Ferdinands abzuwarten, setzte sie sich in Bewegung, griff einen Korb – den sie vorher noch nie gesehen hatte –, warf einen verwunderten Blick in ihre Hütte – es war erstaunlich ordentlich – und verließ ihr Heim. Ferdinand folgte ihr.
    Auf dem Weg in den

Weitere Kostenlose Bücher