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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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für sie bereithielt.
    Im Laufe der Zeit hatte sich die Giannotti daher von jeder Dame ein detailliertes Bild der Lebensgewohnheiten und familiären Hintergründe erstellt: umfangreiche Listen möglicher Ereignisse, exakt bebilderte Tabellen und selbst gezeichnete astrologische Sternkarten – dies alles stand jedoch dem undurchschaubaren Naturschauspiel der Wirklichkeit gegenüber.
    Nicht umsonst wurde die Hellseherei als höchste Form der Wissenschaft angesehen!
    Um diese Angelegenheit gewinnbringend zu vereinfachen, hatte die Giannotti deshalb begonnen, allgemeine Vorhersagen zu entwerfen, deren Auslegung auf beinahe jede Person anwendbar war. Wöchentliche Zufälle und Höhepunkte wiederholte sie dabei allerdings derart ungeschickt und auffällig, dass sich nach wenigen Treffen ein fataler Effekt einstellte: Nur noch zwei uralte Mütterchen wollten einen Blick in die Zukunft werfen.
    Aus diesem Grund vermied es die Giannotti von da an, allgemeine Ratschläge zu verteilen und erfand stattdessen wöchentlich neue Schicksale.
    Sie generierte Ereignisse, die in das Leben der Fragenden perfekt hineinpassten – was bei all der mühsamen Vorbereitung dennoch ein äußerst riskantes Unterfangen war, wenn tatsächlich einmal ein unerwarteter Fall eintrat. Obwohl ihr Repertoire mittlerweile groß genug war, um auffällige Wiederholungen zu vermeiden, und die Zahl der Zuhörer zum Glück wieder erfreulich angestiegen war – insgeheim ahnte die Giannotti, dass ihre mentalen Fähigkeiten in Wirklichkeit bloße Einbildung waren.
    Diese sogenannte Hellseherei!
    Ein einziger großer Schwindel!
    Humbug! Lüge! Bauernfängerei!
    All diese angestauten Zweifel und Ahnungen waren an diesem Morgen plötzlich wie weggeblasen. Heute trug sie den neugierigen Damen aus der Stadt die unglaublichsten Prophezeiungen vor: langsam und geheimnisvoll, mit tiefer Stimme und mysteriösem Blick – ganz so, wie es sein sollte. Ohne eine einzige Zeile vorbereitet zu haben!
    Magische Worte und geheimnisvolle Sätze sprudelten nur so aus ihr hervor. Die Damen kamen aus dem Staunen überhaupt nicht mehr heraus, saßen ergriffen mit offenen Mündern da, ihre ach so dringenden Fragen blieben ihnen prompt im Halse stecken.
    Sie bemerkten nicht einmal, wie Lucia Giannotti unvermittelt zu einem Ende kam, lautlos Geld und Essen einsammelte und sich unbemerkt aus der Mitte der Stadtfrauen entfernte.
    * * *
    Gegen Mittag kam die Giannotti zu ihrer Hütte zurück. Ferdinand schlief. Allein der halbvolle Krug mit Wasser verriet, dass er wach gewesen war. Sie beugte sich über ihn, besah ihn aus der Nähe. Schmutzig war er, und er stank. Seine Kleidung war dreckig und zerrissen. Unter dieser Schicht steckte ein Junge, der struppige Haare hatte, dessen Gesicht nicht hübsch, aber auch nicht sonderlich hässlich war und dessen Hände aussahen, als hätten sie bisher keinerlei schwere Arbeiten verrichten müssen.
    Sie weckte ihn.
    Ob es ihm gutgehe? Könne er aufstehen? Wie sei denn sein Name?
    Der Junge blinzelte, rieb sich die Augen und setzte sich auf.
    Er nickte und folgte der Giannotti zum Tisch. Während er ihr sagte, dass sein Name Ferdinand Meerten sei, verschüttete die Giannotti den Krug mit dem restlichen Wasser auf dem Tisch, stolperte beim Zurückschrecken über ihren Schemel, hielt sich im Fallen an der Tischdecke fest und riss alle auf dem Tisch befindlichen Gegenstände mit sich in die Tiefe.
    Das Klirren des berstenden Krugs blieb jedoch aus.
    Als sie sich gesammelt hatte, sah die Giannotti, dass Ferdinand den Krug aufgefangen und die Tischdecke bereits wieder glattgestrichen hatte.
    Die Giannotti lächelte verlegen. Sie sei leider sehr tollpatschig. Aber heute sei dies ihr erster Sturz gewesen und – sie sah ihren Gast mit großen Augen an. Vielleicht könne Ferdinand ihr beim Kochen helfen, er scheine ja sehr geschickt zu sein.
    Die Zubereitung eines einfachen Hirsebreis hatte die Giannotti schon oft fast das Leben gekostet. Funken hatten ihr Haar entzündet, Holzsplitter übersäten ihre Hände mit Stichverletzungen, riesige Getreidekörner waren ihr im Hals stecken geblieben und drohten sie zu ersticken. Jetzt, mit dem Jungen an ihrer Seite, geschah nichts dergleichen. Kein Wassertropfen verbrühte ihre Hand, kein Löffel zerbrach unter ihren Fingern, alle Schüsseln blieben heil.
    Da war die Veränderung!
    Der Junge war ihr Glücksbringer – so schoss es der Giannotti durch den Kopf.
    Diese Behauptung bedurfte natürlich einer

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