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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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gesehen, die sich im Umland der Stadt herumtrieben.
    Das seien Verbrecher, die sich sicherlich von den Überresten der toten Kinder ernährten!
    Diesen Halunken müsse man tunlichst aus dem Weg gehen!
    Um diese Gegend solle man um Gottes willen einen großen Bogen machen!
    Lucia Giannotti, dieser gottlosen Gestalt, möge man hoffentlich niemals alleine begegnen!
    Die Erzählungen und Märchen über die Giannotti rissen nicht ab.
    Natürlich war sie ebenso anziehend wie abstoßend, konnte zweifellos mit Tieren sprechen und flog in der Nacht selbstverständlich mit einem Besen durch die Luft. Insgeheim sorgte schließlich sie selbst dafür, dass die Bürger der Stadt regelmäßig von Krankheiten heimgesucht wurden und nur sie selbst, die verruchte Hexe Lucia Giannotti, um Heilung bitten konnten.
    All diese Vermutungen reichten aus, um ihren Namen niemals laut auszusprechen. Selbst die mutigsten Männer flüchteten, wenn sie überraschend ihre Gestalt erspähten.
    Kaum jemand wagte sich in die Gegend, wo sie angeblich hauste. Weshalb sie einen italienischen Namen hatte, wusste niemand zu sagen.
    Die berüchtigte Hexe Lucia Giannotti!
    Aufschreiend lief der Anführer der Fänger seinen Kameraden hinterher.
    * * *
    Lucia Giannotti lächelte.
    Ihr tägliches Horoskop hatte ihr für den Abend eine wichtige Begegnung mit einem Unbekannten prophezeit, aus der unglaubliche Veränderungen entstehen würden. Nicht, dass sie sich nach großen Veränderungen sehnte oder Interesse an anderen Menschen hatte! Aber ihre Neugier, was für Veränderungen das sein könnten, und ihr Stolz, dass ihre magischen Fähigkeiten nach wie vor stark waren – eins von beidem hatte sie letztlich vor die Tür getrieben.
    Der Junge schlief; seine Wunden waren nicht schlimm.
    Da er durch Rütteln und Schütteln nicht aufwachte, hörbar atmete und nicht schwer war, hob die Giannotti ihn hoch und legte ihn sich über die Schulter.
    Sie lächelte abermals, wandte sich ostwärts, zu einem der wenigen größeren Waldstücke. Mit sicheren Schritten betrat sie das stockfinstere Gehölz, bis sie schließlich tief im Inneren des Waldes vor einer schwarzgrünen Wand zu stehen kam. Efeuranken und Moosflecken wucherten gedrängt empor; Sträucher und kleine Bäume vermengten sich zu einem undurchsichtigen Dickicht: Das Heim der Giannotti fügte sich perfekt in die unmittelbare Umgebung ein.
    Blindlings stieß sie mit einem Fuß die Tür ihrer Hütte auf, stolperte mit dem Jungen über die Türschwelle, versuchte, sich durch den Dämmerschein des Waldes in der häuslichen Finsternis zurechtzufinden. Vorsichtig tastete sie sich bis zum erkalteten Ofen vor, schob Stroh zusammen und legte den Jungen darauf ab.
    So blieb sie einen Moment stehen und starrte ins Dunkel.
    * * *
    Glücklicherweise hatte es ihr Schicksal so eingerichtet, dass der Giannotti niemals widerspenstige Pflanzen den Weg versperrten. Kein einziger Ast zerkratzte ihr Gesicht, kein Dornbusch zerriss ihre Kleidung und kein heimlicher Bach verschlammte ihre Füße.
    Die Giannotti schien mit ihrer Umgebung zu verschmelzen.
    Nie kam sie vom Weg ab, kein Wetter behinderte ihr Tun, immer fand sie, wonach sie suchte. Auch die Bewohner von Wald und Wiesen fügten sich diesem Umstand: Rehe und Hasen ließen sich von ihr streicheln; Vögel fraßen ihr aus der Hand; auf Füchse und Wildschweine traf sie so gut wie nie.
    Ebenso wie im Wald erging es der Giannotti bei ihren gelegentlichen Ausflügen in die nächtliche Stadt. Nie kam ihr die Patrouille in die Quere, der Zufall spielte ihr immer das zu, was sie gerade gebrauchen konnte: Vergessene Kohlkisten, verlorene Geldbörsen und unbewachte Weinflaschen wanderten wie von selbst in ihren Besitz. Und ihre sporadischen Besuche bei der Stadtwache taten dem keinen Abbruch: Keines der herrenlosen Kinder, die sie gelegentlich gegen ein geringes Entgelt aus der sittsamen Welt schaffte, hatte ihr je Probleme bereitet.
    Unter freiem Himmel fiel der Giannotti – erwartungsgemäß – das Glück in den Schoß.
    Sobald sie jedoch einen Raum betrat, blieb das Glück an der Türschwelle kleben.
    Diesen Zusammenhang hatte die Giannotti durch unzählige Versuche selbst entdeckt und fand sich darin täglich bestätigt.
    Ganz offensichtlich war sie von irgendwem mit einem hartnäckigen Fluch belegt worden!
    Draußen das Glück, drinnen das Pech!
    Es war mehr als eindeutig!
    Woher oder von wem diese Verwünschung stammte, spielte dabei keine große Rolle. Wer auch immer ihr

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