Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
Vom Netzwerk:
brachte ihr auch dann Glück, wenn er selbst nichts tat. Sie schaute auf Ferdinand, der immer noch schlief und von ihrem Wirken offenbar nichts mitbekommen hatte.
    Daher stand die Giannotti auf, schaute entzückt über ihre neue Gestalt, ihr geordnetes Heim: Alles war plötzlich schön, so wunderschön – so, wie sie es durch dieses wunderbare Bild von Ferdinand zum ersten Mal erblickt hatte.
    Ihr Horoskop hatte tatsächlich recht behalten!
    Die angekündigten Veränderungen hatten ihr bisheriges Leben vollständig umgekehrt!
    Berauscht vom Erfolg, ihren lästigen Fluch letztlich doch besiegt zu haben, verließ die Giannotti schließlich ihre Hütte. Aus dem heimischen Dämmerlicht trat sie in das wäldliche Morgengrauen, um im Wald ihr erfolgreich begonnenes Vorhaben fortzusetzen.
    Der Wald war ungewöhnlich still.
    Bäume und Sträucher versanken in Dunstschwaden, die Wipfel waren nur als leises Rauschen zu hören. Die Giannotti schritt mutig voran. Der Nebel schluckte alle Geräusche. Kein Vogel zwitscherte, sämtliche Tiere schienen einen Bogen um sie zu machen; sie fand nicht eine einzige Spur, die auf Bewohner des Waldes hinwies.
    Ebenso wenig entdeckte sie Pilze, Beeren oder Kräuter. Kein Pfad, kein Wegweiser, keine bekannte Lichtung kreuzte ihren Weg. Die Giannotti verlangsamte ihre Schritte.
    Der Wald bot stets das gleiche Bild: Laub, Baumstämme, dazwischen das neblige Nichts.
    Allein ihre Bewegungen waren zu hören. Ihre Kleidung raschelte verräterisch; jeder Busch, den sie streifte, knackte und zischelte; Zweige zerbrachen laut krachend und lachend unter ihren Füßen; die Blätter des Waldbodens knisterten unheimlich; das Rauschen der Baumkronen verwandelte sich in eine unheilvolle Stimme, ein Flüstern, ganz nah, wie von unsichtbaren Phantomen dicht um sie herum: Kehr um! Kehr um!
    Aber dafür war es zu spät. Die Giannotti fröstelte. Was machte sie allein und ohne Ziel im Wald? Um diese Uhrzeit! Wo war sie? Wie sollte sie jemals zurückfinden? Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können, ohne ihren Talisman das Haus zu verlassen?
    Ängstlich blickte sich die Giannotti um. Bei jedem Geräusch zuckte sie zusammen, wechselte panisch die Richtung, floh stolpernd in den nebligen Wald hinein.
    Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Warum musste sie auch unbedingt ihr Schicksal herausfordern? Hatte sie nicht ein gutes Leben geführt? Bescheiden zwar, aber mit vielen guten Momenten. War sie nicht unabhängig gewesen, so wie sie es immer gewollt hatte? Frei, wie es nicht mal die reichsten Männer der Stadt waren! Und Ferdinand, hatte der ihr nicht erst gezeigt, wie glücklich sie eigentlich schon war?
    Ohne es zu merken, hatte Lucia Giannotti einen breiten Pfad gefunden und lief diesen entlang. Der Nebel war verschwunden, und zwischen den Zweigen der Baumwipfel glitzerten die morgendlichen Sonnenstrahlen auf ihren Weg herunter. Selbst das Nahen einer Kutsche vermochte sie nicht aus ihren trostlosen Gedanken zu befreien. Erst, als diese verlangsamte und der Kutscher ihr ein feines Stofftaschentuch reichte, erwachte sie aus ihrer Verzweiflung.
    Was denn eine so hübsche Dame alleine im Wald mache, zu dieser frühen Stunde? Sei ihr etwas zugestoßen? Weshalb die Tränen, wo drücke denn der Schuh?
    Verwundert blickte die Giannotti auf, sah das freundliche Gesicht des Kutschers, nahm verblüfft das angebotene Tuch entgegen und trocknete wie selbstverständlich ihre Wangen.
    Ob sie ein Stück mitreisen wolle und dabei erzählen, was ihr widerfahren sei?
    Die Kutsche hatte neben ihr angehalten, und der Mann auf dem Kutschbock streckte galant seinen Arm nach ihr aus.
    Kaum, dass sie Platz genommen hatte und die Kutsche losfuhr, kehrten die Tränen der Giannotti zurück. Schluchzend berichtete sie dem Mann, sie habe sich im Wald verirrt, weil sie ihren Glücksbringer zu Hause vergessen habe. Ihr Talisman, der ihr doch Glück bringen sollte! Er habe sie im Stich gelassen und sie allein in die Wildnis geschickt.
    Dabei sollte er ihr doch zu einem besseren Leben verhelfen!
    Und nun erzählte Lucia Giannotti von ihren Visionen vor dem Spiegel – wie wunderschön sie gewesen war, dass sie in einem prachtvollen Haus lebte, mit Personal, Kindern und einem Ehemann, alle ebenso schön und erhaben wie sie selbst. So klar habe sie diesen Traum erlebt, hätte Anweisungen an ihr Personal erteilt, sich mit den freundlichen Nachbarn unterhalten, mit ihren Kindern gelacht und gespielt, und ein Ehemann sei eben auch da

Weitere Kostenlose Bücher