Der Widerschein
hinzu, was meist dazu führte, dass sich die Anführer jenes Völkchens ausgiebig in gebrochenen Worten bei ihr bedankten.
Das fahrende Volk nahm die Neuankömmlinge unbesehen auf. In nächster Zeit werde man die Neuen zu einem Gespräch beiseitenehmen. Man wollte ihnen erklären, dass sie nun zu einer neuen Familie gehörten, in der sie sowohl Rechte als auch Pflichten besäßen, aber dass man als Familie immer zusammenstehen würde, komme, was da wolle.
Die Giannotti hatte solche Gespräche bisher teilnahmslos verfolgt; heute jedoch wirbelten ihre Gedanken umher.
Die Tatsache, dass Ferdinand ihr in der letzten Woche zu vielen glücklichen Momenten verholfen hatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich insgeheim durch ihn gestört fühlte. Nicht nur sein Händedruck war schuld daran; seine Blicke, seine Hilfsbereitschaft, ja seine bloße Gegenwart brachten die Giannotti völlig durcheinander.
Vor allem sein ständiges Redebedürfnis war kaum auszuhalten!
Als ob sie ihn jemals um seinen Rat oder seine Meinung gebeten hätte!
Warum konnte er sich nicht still und ruhig verhalten wie andere Kinder auch?
Ohne Ferdinand, da hatte sie die Zeit noch für sich selbst gehabt!
Aber ihren Talisman nun zu verlieren, ihn diesen Wanderern zu überlassen und damit ihr Glück davonziehen zu sehen, das gefiel der Giannotti natürlich ebenfalls nicht.
Entgegen aller Vorsätze machte sie sich nicht gleich auf den Heimweg, sondern nahm am Feuer Platz, führte kleinere Unterhaltungen und betrachtete alles um sich herum.
Zweifellos bekam Ferdinand mit, dass dies hier eine Gemeinschaft war, die zwar eine andere Sprache sprach, aber grundsätzlich bereit war, fremde Menschen ohne weiteres aufzunehmen; mit wachen Augen verfolgte die Giannotti, wie rasch sich Ferdinand mit den Anwesenden anfreundete, wie eifrig er – trotz des Sprachunterschieds – den Gesprächen lauschte, wie seine Augen im Feuerschein leuchteten.
Grübelnd beobachtete die Giannotti den Jungen, bis sie schließlich am Feuer einschlief.
* * *
Als sie einige Stunden später erwachte, war es noch dunkel.
Das fahrende Volk hatte sich in Zelte und Wagen zurückgezogen, das Lagerfeuer glühte nur schwach. Jemand hatte eine Decke über sie gelegt. Trotzdem fühlte die Giannotti sich unwohl. Erst nach einem Moment erkannte sie, was sie störte. Ferdinand lag neben ihr; sein Kopf berührte ihre Schulter.
Dies ging nun wirklich zu weit!
Dass er bei ihr wohnen durfte, das war schon viel!
Sein Händedruck forderte ihre Gutmütigkeit ebenfalls arg heraus!
Aber das, das war nun zu viel des Guten!
Vorsichtig rückte die Giannotti zur Seite, nahm jedoch mit stärker werdendem Ekel wahr, dass Ferdinand ihr folgte. So oft sie nach hinten wegrutschte, der Junge rutschte ihr nach!
Schließlich gab sie auf, drehte sich um und stand auf. Ferdinand blieb liegen.
Die Giannotti überlegte. Wenn sie jetzt ging, würde der Junge hierbleiben. Seine Anhänglichkeit würde sich auf eine neue Familie übertragen, und sie selbst wäre diese Sorge los. Gleichzeitig ließ sie aber auch ihr Glück zurück, ihren Schlüssel zur Zukunft. Nie würde sie in der Stadt leben, sie würde arm, unbedeutend und ausgestoßen bleiben.
Kein Mensch würde jemals ihren Namen richtig aussprechen.
Und zuletzt würden erneut Ecken und Kanten über sie herfallen und sie mit Beulen und Flecken strafen. Es war zum Verzweifeln.
Sie blieb stehen, blickte auf Ferdinand und versetzte ihm dann einen leichten Stoß, so dass er erwachte.
Schlaftrunken wankte der Junge hinter ihr her, Lucia Giannotti ging lächelnd voran.
Es gab eine Möglichkeit, den Jungen zu bändigen und ihr Glück zugleich zu behalten.
Wenn nicht, konnte sie Ferdinand immer noch an irgendwelche Vagabunden abgeben.
* * *
Kaum, dass sie die Hütte erreicht hatten, wies die Giannotti Ferdinand an, sich hinzulegen und weiterzuschlafen. Während er schlief, probierte sie all die Dinge aus, die ihr zusammen mit Ferdinand geglückt waren. Sie reinigte die Stube, heizte den Ofen, kochte Hirsebrei und setzte sich zuletzt im Schein einer Kerze vor den Spiegel.
Nichts war geschehen, kein noch so kleines Missgeschick hatte sich ereignet.
Beglückt betrachtete sich die Giannotti; dann wusch sie ihr Gesicht, kämmte ihr Haar und warf nebenbei prüfende Blicke auf die Zeichnung am Rahmen. Dann zog sie ihre Kleider aus, reinigte diese und begann, Risse und Löcher mit Nadel und Faden auszubessern.
Es funktionierte. Ihr Talisman
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