Der Widerschein
Grüntönen.
Auf den zweiten Blick allerdings lugten zwischen den Blättern und Ästen die Bewohner des Waldes hervor. Käfer und Raupen erklommen schwerfällig die Blattspitzen, Ameisen wanderten eifrig über breite Baumstraßen, Schmetterlinge schwebten gleich bunten Farbtupfern über die Szene hinweg. Grillengezirpe, Vogelgezwitscher, Spechtklopfen, Wipfelrauschen – Gerlach sog den Atem des Waldes genüsslich in sich hinein.
Schon wollte er sich zufrieden abwenden, um ein anderes Bild zu betrachten – da bemerkte er hinter der idyllischen Fassade behutsame Bewegungen. Ein Tier versteckte sich in der Szenerie. Lautlos sprang es von Ast zu Ast, ließ Vogelschwärme kreischend aufsteigen, nur schemenhaft drangen Gestalt und Farbe zu Gerlach vor.
Längst hatten sich Zweige und Triebe aus den Grenzen des Bildes hinausbewegt. Efeu und Schlingpflanzen kletterten über den Bildrand, rankten an Wänden und Möbeln hoch bis zur Decke, wickelten sich um Gerlachs Füße. Insekten und Blütenstaub schwirrte um seinen Kopf – mit einem Mal verstummte der Wald. Ein leises Fauchen ertönte, ein Zischen – plötzlich zurrten sich die Lianen um Gerlachs Beine fest, rissen ihn zu Boden, zogen ihn mit einem Ruck ins Dickicht hinein, das sich wie ein breiter Schlund öffnete und eine grauenhafte Dunkelheit preisgab, aus dem allein Augen und Zähne des unsichtbaren Raubtieres hervorblitzten.
Ob sie dem Herrn vielleicht das Laken abnehmen solle?
Starr vor Angst sah Gerlach um sich, blickte in das fröhliche Gesicht der Magd, nahm endlich ihre Hand wahr, die nach dem Tuch griff, das er von der Leinwand gezogen hatte und nun fest umklammert hielt.
Für ihren Geschmack sei das Bild recht gut gelungen, man sehe ja sonst so selten mal ein Stück Wald in dieser Gegend. Sicher sei es in Preußen oder Frankreich gemalt worden, dort gebe es ja angeblich noch Wälder, in denen Wölfe, Bären und sogar Luchse lebten.
Gerlach gab das Tuch frei, wandte sich ab, erblickte das Waldbild. Nun schien alles ruhig – die Zweige standen still, weder Laut noch Bewegung drang aus ihm hervor. Ein einziger Riss in der Blätterwand gewährte einen Einblick in die dahinter befindliche Welt.
Mit Schrecken erkannte er in diesem Spalt die Konturen einer funkelnden Kralle.
Angst erfüllte Gerlach – eine Angst, wie er sie schon einmal erleben musste.
Was, wenn er durch die Betrachtung eines dieser Werke wahnsinnig würde, wie all die anderen Menschen vor ihm? Wenn er körperlich zu Schaden kam? Wenn er dabei starb?
Mit starrem Blick wandte sich Gerlach ab von dem Bild, dem Dickicht, der blitzenden Kralle; bleich überschaute er all die anderen Werke um ihn herum, die er aus gutem Grund mit Tüchern und Stoffen abgedeckt hatte. Wer wusste schon, welche Welten noch in diesen Bildern lauerten? Welche Gefahren darin verborgen lagen? Gerlach zitterte.
Aber auch welche Möglichkeiten!
Was, wenn man die Wirkung der Bilder kontrollierbar machen konnte? Wenn man durch ein bestimmtes Bild verrückt werden konnte, vielleicht wurde man durch ein anderes klug.
Oder schön! Oder jung! Oder sogar – unsterblich!
Das Zittern stoppte; Gerlach sah mit klarem Blick aus dem Fenster, in die Weite hinaus.
Er musste diesen Jungen haben, diesen Ferdinand Meerten.
Koste es, was es wolle!
* * *
Im Laufe der folgenden Wochen erprobte die Giannotti mit Ferdinand unzählige Situationen, bevorzugt solche, in denen sie sonst vom Pech verfolgt schien. Innerhalb ihrer eigenen vier Wände widerfuhr ihr kein einziges Missgeschick, und auch die gelegentlichen Ausflüge in den Wald verliefen wie zuvor zu ihrer vollsten Zufriedenheit.
Mit Ferdinand an ihrer Seite wagte sie nun sogar wirklich gefährliche Unterfangen.
Aus einem Bienenstock erbeutete sie ohne einen einzigen Stich eine volle Wabe; von einem benachbarten Bauernhof entwendete sie unbeachtet eine Gans; und die Vorhersage für die Stadtfrauen gestaltete sich mit Ferdinand – der sich still in einem nahen Gebüsch zu verstecken hatte – zum reinsten Kinderspiel.
Bei einem ihrer Besuche bei der äußeren Stadtwache betrat sie zusammen mit Ferdinand sogar die Wachstube und unterhielt sich mehrere Minuten lang mit einem zahnlosen Alten, dem sie gelegentlich ein oder zwei der herrenlosen Kinder der Stadt abnahm – solche, die zu groß für ein Waisenhaus, zu klein für eine Gefängniszelle oder sonst wie nutzlos waren.
Vor ewigen Zeiten hatte dieser Wachmann die Giannotti um Rat ersucht: Es gebe in der Stadt
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