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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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Gefolgsleute ein, schlugen selbst etliche der Wächter bewusstlos: Knochen brachen, Blut spritzte, Zähne zersplitterten – eine gradlinig durchgeführte Offensive, wie aus dem Kriegslehrbuch!
    Man schrie um Hilfe, winselte um Gnade – ohne Erfolg. Dies war kein Schauspiel mehr! Hier ging es plötzlich um Leben und Tod! – so zuckte es Huygens durch den Kopf.
    Er musste eingreifen, handeln! Sofort! Das alles hier ergab doch absolut keinen Sinn!
    Während um ihn herum seine Kompanie unaufhaltsam zu Boden ging, wirbelten Huygens’ Gedanken und Erinnerungen hemmungslos durcheinander. Schon meinte er den beißenden Rauch von Kanonenschüssen einzuatmen, die Stimmen ehemaliger Kameraden zu vernehmen, wähnte sich selbst in seiner perfekt sitzenden Uniform, griff zum Gewehr. Er schlug um sich, feuerte, traf, warf sich in Deckung, robbte durch noch dampfende Einschlagskrater hindurch, lud nach, visierte neue Ziele an, schoss erneut – und erstarrte.
    Aus dem nach wie vor dichten Nebel drang ein Geräusch heran, ein Reißen und Bersten erfüllte die Luft. Huygens spähte nach vorn, traute seinen Augen nicht.
    Die Nebelwand am Ende des Schlachtfeldes öffnete sich, brach auf – nein, viel schlimmer: Sie zerteilte sich buchstäblich, sie zerriss!
    Ganz so, als wäre sie aus Stoff oder bloßem Papier!
    Als ob der Horizont nur ein endloser Vorhang wäre, der sich nun öffnete!
    Huygens starrte ungläubig in dieses aufziehende Nichts hinein.
    Die Einschläge der Kanonenkugeln hinterließen bei ihrem Aufprall an Stelle von Explosionen nun gewaltige Einschusslöcher, deren zerfaserte Ränder sofort Feuer fingen und im Nu Himmel und Erde in Brand setzten.
    Dahinter kam etwas zum Vorschein, das Huygens in panischen Schrecken versetzte.
    Der Oberaufseher starrte in eine Leere, die sich jeglicher Beschreibung entzog. Ein Untier, ein Unding, ein unbeschreibliches Etwas kam zum Vorschein, das ihn lautlos ergriff, in winzige Einzelteilchen zerriss, ihn als Mensch buchstäblich zerfetzte – ihn mit all seinen verwahrlosten Erinnerungen, destruktiven Vorstellungen und überholten Ansichten vollständig und endgültig auslöschte.
    Huygens schrie auf, hob schützend die Arme empor – ein heftiger Schlag auf den Kopf weckte ihn glücklicherweise aus diesem Alptraum auf. Kurz sah er sich um, erkannte erleichtert die missratene Probe wieder, kippte währenddessen vornüber, meinte im Fallen zu sehen, wie Brown am Ende des Nebelfeldes erschien, lächelnd einen Arm um Ferdinands Schulter legte.
    Dann wurde Huygens endgültig schwarz vor Augen.
    * * *
    Huygens erwachte von den Stimmen um ihn herum.
    Der Hof sei von allen Spuren bereinigt worden.
    Fünf Tote, aber um die Verletzten stehe es überraschend gut.
    Dieser Brown habe zum Glück nicht seinen Kopf verloren, wie all die Irren um ihn herum.
    Der habe sofort begriffen, wie man eine solche Situation retten könne.
    Der besitze Führungsqualitäten, die suche man hierzulande vergebens.
    Bevor Huygens widersprechen konnte, zuckte ihm ein Schmerz durch die Stirn, füllte seinen Kopf aus, strömte weiter bis in Rückgrat und Lenden hinein. Unsanft klatschte seine Hand auf den Fußboden, die Stimmen um Huygens herum verstummten.
    Sofort eilten zahlreiche Helfer heran, hoben den Oberaufseher von einem hastig errichteten Lager auf – mehrere Decken, die im Arbeitszimmer kurzerhand auf dem Boden ausgebreitet worden waren – man reichte ein kühles Tuch, half dabei, es auf die schmerzende Beule zu legen. Der Herr Oberaufseher habe großes Glück gehabt: Es sei noch nicht mal ein Kratzer zu sehen, andere seien übel zugerichtet worden, er sehe ja selbst.
    Er habe viele Stunden geschlafen, es war bereits Morgen. Die Vorhänge wollte man nicht aufziehen, um dem Herrn Kommandanten die nötige Ruhe geben zu können. Es sei einiges geschehen mittlerweile.
    Huygens musste hilflos diese Geschichte ein ums andere Mal anhören: Wie er zu Beginn die Gefangenen mit Regeln, Flüchen und Fußfesseln in die Formation gedrängt hatte; dass der Hof vor lauter Menschen aus allen Nähten zu platzen drohte und es zwischendurch zu zahlreichen Prügeleien mit den Wärtern gekommen war; wie sich Brown ihm gegenüber positioniert hatte, bereit, seine Gefolgschaft laufen zu lassen; wie dessen Horde plötzlich den Platz stürmen wollte und weder durch Bitten noch durch Gegenwehr aufgehalten werden konnte; wie die Irren sich beim Prügeln immer stärker aufgestachelt hätten; wie er, Huygens, überfallen worden war,

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