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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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nächsten Proben sollte Ferdinand in den eigenen Reihen die entscheidende Rolle spielen, aber dafür war ja noch Zeit. Zu allererst müssten die Grundvoraussetzungen geschaffen werden, um Details würde man sich später kümmern.
    Nach Größe sortiert, präsentierte sich das Heer des Oberaufsehers an der östlichen Seite des Hofes, Holzschwerter und angedeutete Bajonette im Anschlag.
    Stundenlang hatte man damit zugebracht, alle Spieler mit Fesseln, Orden, Krücken und sonstigen Requisiten auszustatten, ihre Positionen abzusichern, ein überschaubares und gleichzeitig ansehnliches Szenario zu errichten, welches den Vorstellungen des Kommandanten so nah wie möglich kam.
    Stolz schritt Huygens nun an seiner Truppe vorbei, wandte sich dann dem nebelverhangenen Schlachtfeld zu. Von der gegnerischen Partei waren trotz der geringen Entfernung weder Umrisse noch Geräusche wahrzunehmen.
    Huygens nahm Haltung an, gab das Kommando zum Vorrücken.
    Ruckartig setzte sich alles in Bewegung.
    Mit dem ersten Schritt nach vorne jedoch zerteilte sich die mühevoll errichtete Formation in eine Vielzahl von Einzelkämpfern, die zwar durch ihre ähnlichen Uniformen unverkennbar zur gleichen Kompanie gehörten, deren Bewegungen aber in keinster Weise die gebotene Disziplin widerspiegelten: Die Flanken stolperten in die Mitte, die Nachhut humpelte hilflos hinterher, der angeordnete kurze und prägnante Schlachtruf verwandelte sich bei den losgelassenen Schwachsinnigen in ekstatische Schreie oder verkümmerte zu einem wehmütigen Stöhnen der kraftlosen Veteranen, die sich nach der ewigen Vorbereitungszeit kaum noch auf den Beinen halten konnten.
    Huygens schloss einen Moment die Augen, wagte nicht, sich umzudrehen: Die Geräusche hinter ihm sprachen eine deutliche Sprache, wie es um seine Einheit stand, mit was für Stümpern – ja, mitunter Zivilisten! – er in die alles entscheidende Schlacht ziehen musste, auch wenn es in Wirklichkeit nur eine erste Probe war.
    Vor seinem inneren Auge vermengten sich seine sorgsam gehüteten Erinnerungen mit den unheimlichen Eindrücken aus Ferdinands Zelle, die zwar augenscheinlich beide die gleichen Bilder hervorriefen – sein Bauchgefühl verriet ihm jedoch, dass die Vision in dieser steinernen Enge die Wirklichkeit nach Belieben zurechtbog, so dass er, Huygens, bald selbst nicht mehr wusste, was passiert war und was er im Laufe der Zeit hinzugedichtet hatte.
    Etwas an diesem steinernen Abbild ängstigte Huygens, etwas daran stimmte so überhaupt nicht mit seinen Erinnerungen überein – aber, er kam einfach nicht darauf, was es war.
    Verstimmt und verwirrt hob Huygens die Hand, um seine Gefolgschaft zu stoppen, öffnete zeitgleich seine Augen, sah nach vorn, erstarrte. Aus dem Schatten des Nebels rückte eine breite Front auf ihn zu, eine lückenlose Formation, die blitzartig in die eigenen Reihen hereinbrach. Hochkonzentrierte Gesichter rauschten auf Huygens zu, an ihm vorbei; verbrauchte Menschen – krank, alt und wahnsinnig – bereit, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.
    Alle schwangen Stöcke und erstaunlich echt wirkende Attrappen, nahmen vorbildliche Kampfpositionen ein, als ob sie in ihrem Leben nichts anderes getan hätten.
    Von Gegenwehr konnte keine Rede sein.
    Huygens’ Kompanie schien ebenso sprach- und fassungslos zu sein wie er selbst. Entsetzt ließ man Waffen und Krücken fallen, stolperte über die eigenen Fußfesseln, lief sich gegenseitig um, ohne dem anrückenden Gegner in irgendeiner Weise entkommen zu können: Der Feind war im Nu praktisch überall.
    Huygens presste Lippen und Zähne aufeinander, um nicht lauthals fluchen zu müssen.
    Keine Spur von Disziplin! Es war schlichtweg zum Verzweifeln!
    Nicht nur, dass für diese erste Probe keinerlei Feindkontakt vorgesehen war!
    Die stattfindende Aktion stand im krassen Widerspruch zu den tatsächlichen Ereignissen!
    Als ob man diese Veranstaltung hier zum bloßen Vergnügen machte!
    Kein Sturmangriff, sondern Stellungskrieg!
    Verschanzen, feuern, Befehle abwarten!
    Keine voreiligen Vorstöße oder Eroberungsversuche!
    Strategie und Taktik! Taktik!
    Hörte eigentlich irgendjemand zu, wenn er Anweisungen erteilte?
    Noch bevor Huygens seinem Ärger allerdings Luft machen konnte, wurde ihm nach und nach bewusst, wie beunruhigend sich die Lage entwickelte.
    Die Wucht des Angriffs setzte sich in den Zweikämpfen konsequent fort. Huygens erbleichte. Die Angreifer rückten unerbittlich vor, prügelten gnadenlos auf seine

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