Der Widerschein
mitten in der ersten Probe, und so weiter und so fort – Huygens hasste diese Geschichte schon, bevor er das Ende gehört hatte.
Er verlange einen Bericht, keine Aufzählung von Ereignissen, die ihm längst bekannt seien.
Erklärungen! Wie sei ein solcher Überfall möglich gewesen?
Die Wärter starrten still zu Boden; Huygens sah von einem zum anderen, blieb mit seinem Blick im Türrahmen seines Arbeitszimmers bei drei Gestalten hängen, die er nicht kannte.
Es gebe eine Antwort auf diese Frage.
Aus dem Schatten seiner beiden Begleiter trat Gerlach hervor, lächelte Huygens an.
Dieser Überfall, sprach Gerlach weiter, dies sei ein Kunstwerk, erschaffen vom größten Künstler aller Zeiten: Ferdinand Meerten.
* * *
Der Oberaufseher nickte. Er könne verstehen, dass Gerlach als gediegener Mann nicht wohl sei, einen sorgsam errichteten Wunschtraum ziehen lassen zu müssen. Huygens betonte, er wisse die entgegengebrachte Hochachtung für sein Amt sehr zu schätzen.
Aber wie er sich das denn vorstelle? Die Verrückten seien schließlich zur Sicherheit hier eingesperrt, nicht, um plötzlich abgeholt zu werden. Er könne an den Vorschriften auch nichts ändern.
Gerlach bat Huygens, Platz zu nehmen. Er blieb einen Moment schweigend vor ihm stehen. Dann gab er dem Kommandanten Ferdinands Bild der Hexe in die Hände.
Das habe der Junge gezeichnet.
Beeindruckend, in der Tat, murmelte Huygens nach einigem Zögern, ohne dabei seine Augen vom Bild abwenden zu können, überaus beeindruckend.
Gerlach lächelte.
Dies sei nicht nur gewöhnliches Zeichentalent, so etwas grenze an eine göttliche Gabe.
Der Oberaufseher bewegte sich nicht mehr.
Ja, wenn er es bedenke, sei dieser Junge doch vollkommen gesund und viel zu harmlos, um in solch einer eingeschränkten Institution sein Leben fristen zu müssen.
Mit einem Mal stand der Kommandant auf, wobei er das Bild, das mittlerweile durch den Druck seiner Hände zerknittert war, sorgsam zerriss.
Unter keinen Umständen! Wie er solche Forderungen aufstellen könne!
Ferdinand sei ein Wahnsinniger, doch kein Künstler! In der Welt würde er untergehen, verrecken – und mit ihm vermutlich die ganze Welt. Das werde er niemals zulassen!
Gerlach sah den Kommandanten ernst an.
Vielleicht gebe es ja noch einen anderen Weg.
* * *
Die nach der Schlacht provisorisch errichtete Krankenstation bestand aus zwei nebeneinandergelegenen fensterlosen Lagerräumen, die seit den Gefängniszeiten nicht mehr genutzt worden waren. Leere Kisten, Staubfäden und Mäusedreck, die Türscharniere rosteten, das Mauerwerk zeigte – wie fast überall im Gebäude – etliche Risse und Löcher.
Selbst dem davor befindlichen Flur schenkte man kaum Beachtung. Dieser stellte den Übergang vom Irrenhaus zum Krankenkeller dar, den man nur zur Essenszeit entlangging oder wenn die Toten eingesammelt werden mussten.
Jetzt schien dieser Ort aus allen Nähten zu platzen.
Im ersten Raum hatten die Wärter jene Verletzten deponiert, die auch ohne ärztliche Hilfe eine Weile auskommen konnten. Auf dem Gang befanden sich die schweren Fälle, bei denen jede Sekunde der Tod eintreten konnte. Im zweiten Raum – der lediglich durch einen dünnen Vorhang vom Flur abgetrennt war – präsentierte sich Brown als Wunderheiler. Im Minutentakt schob er den Stoff beiseite, ließ die Wärter den einen Verletzten abholen und einen neuen hereinbringen. Dabei gab er den Blick auf ein nahezu leeres Zimmer frei: In der Mitte befand sich ein großer Tisch, dahinter ein schmaler Stuhl, über dem ein Stück Stoff hing. An den Wänden flackerten einige Fackeln, Browns Schatten tanzte fortlaufend über alles und jeden hinweg.
Am anderen Ende des Zimmers hockte – nahezu unbeachtet – Browns schweigsamer Assistent, Ferdinand; selten nur sah man ihn am Stuhl stehen, wie er das darübergeworfene Tuch geradezog, um danach sogleich wieder aus dem Blickfeld zu entfliehen.
Kaum waren die Wärter draußen, zog Brown den Vorhang zum Gang beiseite; man vernahm leise Stimmen, hörte ihn mit unsichtbaren Werkzeugen agieren, wie er Knochen einrenkte oder gelegentlich zur Säge griff.
Huygens bahnte sich – erbost durch das gerade geführte Gespräch mit diesem Gerlach, den er sofort aus dem Haus hatte befördern lassen – einen Weg durch den nach wie vor überfüllten Flur, auf dem mittlerweile schon die weniger bedrohlichen Fälle anzutreffen waren. Es roch nach Blut, Schweiß und schlimmeren Abartigkeiten; man wimmerte leise oder
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