Der Wind bringt den Tod
an. Kirsten Küver ist eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen treffen kann. Haben wir uns verstanden?«
Jule verstand schnell. Seger hatte eben ein schlüssiges Argument geliefert, warum er nicht auf ihre Fragen eingehen konnte – und noch im gleichen Atemzug hatte er es selbst unterlaufen. Er wusste mehr, als er sagte, und er hatte sie an seinem Wissen teilhaben lassen. Eine widersinnige Hoffnung erwuchs in ihr, kraftvoll und doch erschütternd. »Lebt Kirsten noch?«, rief sie in den Hörer.
Er antwortete nicht. Erst nach einigen Sekunden erkannte Jule, dass die Leitung tot war. Seger hatte aufgelegt.
82
Lothar Segers erste Reaktion auf den Anruf von Jule erfolgte schnell: Er sagte seine weiteren Termine für diesen Tag ab. Seine Patienten würden es überleben. Außerdem würden sie sich ohnehin bald einen neuen Therapeuten suchen müssen, wenn er sich nicht wieder in den Griff bekam.
Der nächste Schritt in seinem Plan, diese verfahrene Situation doch noch irgendwie aufzulösen und nicht vollends den Verstand darüber zu verlieren, fiel ihm schwerer. Eine Stunde lang saß er mit dem Hörer am Ohr hinter seinem Schreibtisch und schaffte es nicht, die eine Nummer zu wählen, die er schon so oft gewählt hatte. Erst als er das Gefühl hatte, das Tuten des Freizeichens würde lauter und lauter, bis es ihm schier den Schädel auseinanderzusprengen drohte, tippte er hastig die Nummer ein.
»Bitte leg nicht auf!«, waren seine ersten Worte.
Caro tat ihm den Gefallen. »Was willst du?«
Er konnte deutlich hören, wie sehr er sie verängstigt und gekränkt hatte und wie sie ihre Angst und ihren Schmerz hinter einer Schutzmauer aus Zorn verbarg. »Hör mir bitte zu!«
»Tu ich doch. Was willst du?«
»Ich habe gerade mit Jule telefoniert.« Er redete schnell, um zu verhindern, dass sie auflegte. »Es war ein schwieriges Gespräch. Fast ein Streit. Es kann sein, dass sie sich bei dir meldet und dich etwas fragt. Alles, was ich von dir will, ist, dass du ihr die Wahrheit sagst. Mehr nicht.«
»Und was fragt sie mich?«
Er erkannte Misstrauen und Unverständnis in ihren Worten. Er hatte nichts anderes erwartet. »Sie wird dich wahrscheinlich nach einer gewissen Kirsten Küver fragen.«
»Wer ist das?«
»Siehst du? Du weißt es nicht.« Er atmete erleichtert auf. »Und das ist schon die ganze Wahrheit.«
»Du spinnst.« Nun war da wieder der alte Zorn in Caros Stimme. »Du bist komplett wahnsinnig. Ruf mich nicht wieder an.« Sie legte auf.
Er bemerkte erst, dass er sich den Schorf von den Knöcheln kratzte, als ihm das Blut von den Händen tropfte. Er musterte die roten Tropfen auf seiner Schreibtischunterlage lange und intensiv, als stünde in ihnen die Zukunft geschrieben. Nicht nur seine Zukunft. Auch die von Jule Schwarz.
83
Jule musste sich zusammenreißen. Trotz der überraschenden Verbindung zu Seger war es nicht ihre Aufgabe, das Rätsel um Kirsten Küvers Verschwinden zu lösen. Sie war keine Ermittlerin in einem Kriminalfall. Sie war Projektleiterin in einem Unternehmen, das am heiß umkämpften Markt der erneuerbaren Energien zu bestehen hatte. Ihre Mission war es, dafür zu sorgen, dass Zephiron hier auf Odisworther Gemarkung den bislang größten Windpark auf deutschem Boden errichten konnte. Zudem war es müßig, sich über Kirstens Schicksal den Kopf zu zerbrechen, falls sie Segers Hinweis richtig gedeutet hatte: Kirsten lag nicht als Leiche in einem Kühlfach im Keller irgendeiner Gerichtsmedizin, sondern in Goa oder Koh Samui am Strand und ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen.
Jule nahm sich noch einmal das örtliche Telefonbuch und eine große Flasche Wasser aus Evas Kühlschrank. Danach arbeitete sie sich Anruf für Anruf durch die Namen auf der Excel-Liste, auf der die Besitzer kleinerer, aber nichtsdestoweniger relevanter Grundstücke verzeichnet waren. Insgesamt führte sie in den nächsten sechs Stunden knapp dreißig Telefonate. Sie machte nur einmal eine Pause, um sich zwei Schinkenbrote zu schmieren. Sie aß hastig und wich allen Fragen Evas zu Smolski und Kirsten Küver aus.
Die Hälfte der Gespräche dauerte jeweils höchstens zwei Minuten und verlief in drei Phasen: In Phase Eins stellte sie sich und ihr Anliegen kurz und höflich vor. In Phase Zwei brandete ihr eine fast körperlich spürbare Woge der Ablehnung aus dem Hörer entgegen. In Phase Drei schließlich empfahl man ihr, sich irgendwann später noch einmal oder gar nicht mehr in dieser
Weitere Kostenlose Bücher